Das Ende der Welt
ihrem Blick. Die Frau mit dem Messer hielt inne. Sie war brünett, dünn, aber nicht so dünn wie Chloe, und sie sah aus, als habe sie großen Spaß bei der Sache. Chloe stand auf und torkelte uns entgegen.
Sie war klapperdürr. Die Rippen zeichneten sich unter ihrem Top ab. Über dem winzigen Tanga und dem Strumpfhalter, beide billig und abgetragen, stachen ihre Beckenknochen hervor.
»Ihr!«,
sagte sie vorwurfsvoll, so als hätte sie fast mit uns gerechnet, als hätten wir diese Auseinandersetzung bereits hinter uns und sie wäre als Siegerin daraus hervorgegangen. »Was wollt
ihr
denn hier?«
Sie lachte. Ganz offensichtlich war sie high. Sie war betrunken oder vielleicht auf Heroin.
»Wollt ihr mitmachen?« Sie zeigte auf die Stelle in der Zimmermitte, die sie eben verlassen hatte. »Willst du die Nächste sein?«, sagte sie zu Tracy.
Ich blieb wie erstarrt stehen. Eine Million Gedanken schossen mir durch den Kopf. Keiner davon stimmte; alle waren eine Ausflucht, ein Ablenkungsmanöver, eine hilflose Reaktion auf das Bild, das sich mir bot.
»Wir …«, fing Tracy an, aber ihre Stimme versagte.
»Wir sind gekommen«, versuchte ich.
»Um dich zu finden«, sagte Tracy mit schwacher, dünner Stimme. »Wir haben dich gesucht.«
»Mich gesucht?«, fragte Chloe und lachte freudlos. Sie tauschte einen Blick mit CC , und beide lachten. Chloe geriet ins Schwanken, wippte auf den hohen Hacken vor und zurück. Sie stakste zum Sofa, geriet ins Straucheln und fiel. CC fing sie auf, und beide lachten.
»Mich gesucht?«, wiederholte sie. »Ach ja. Ich vergaß. Ihr seid ja kleine Detektivinnen. Ihr habt da so ein Buch.« Sie drehte sich zu CC um. »Die haben da so ein Buch«, erklärte sie, »ein Buch darüber, wie man Rätsel löst. Sie halten sich für Detektivinnen.«
»Ich hab da was zum Suchen«, spöttelte Lenny. »Es ist hier in meiner Hose.«
Alle lachten.
Chloe warf uns einen Blick zu, der jeden vernichtet hätte. Jeden außer Tracy.
»Reena«, sagte Tracy, »hat uns gebeten, dich zu suchen.«
Chloe verzog das Gesicht, als habe sie einen widerlichen Geschmack im Mund.
»Die Schlampe«, sagte sie. »Also, wisst ihr …« Für eine Sekunde sah sie aus, als wollte sie weinen, aber sie fing sich schnell. »Scheiß auf sie. Blöde Kuh. Immer bei der Arbeit. Streberin. Verdammte kleine Miss Perfect.«
»Sie hat sich Sorgen gemacht«, sagte Tracy, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Um dich.«
»Tja, wie ihr sehen könnt«, sagte Chloe verbittert, »brauche ich keine Hilfe. Es sei denn, ihr wollt was trinken und noch ein bisschen hierbleiben …«
Wieder lachten alle.
»Seid ihr wirklich Detektivinnen?«, fragte einer der Männer. »Ihr löst Fälle?«
Ich wollte sagen:
Ja, genau,
aber nichts kam heraus, als ich den Mund öffnete.
»War schön, euch zu sehen«, sagte Chloe in eisigem Tonfall. Sie klang ernüchtert. Sie winkte uns zu: »Bye-bye, Mädchen!« An ihrem Arm lief Blut herab, und auf ihrer Hüfte war ein roter Fleck.
»Du kannst mitkommen«, sagte ich mit letzter Kraft. »Wenn du willst. Wir könnten dich jetzt sofort nach Hause bringen.« Meine Stimme klang dünn und blechern. Wieder lachten alle.
»Fick dich!«, sagte Chloe. Sie starrte die Wand an. »Haut ab und fickt euch.«
Tracy machte den Mund auf und wieder zu.
Niemand beachtete uns, alle wandten sich wieder ihrer jeweiligen Unterhaltung über Drogen und persönliche Dramen zu. Chloe schloss die Augen und legte eine Hand darüber, so als fürchte sie, sie könnte sie aufschlagen und uns immer noch sehen.
Tracy und ich sahen einander an. Wir hatten nichts mehr zu sagen.
»Fahrt zur Hölle«, murmelte Chloe.
»Da sind sie doch schon«, sagte CC .
Schweigend liefen wir zum Bahnhof. Ein kalter Wind peitschte vom Fluss her durch die Straßen und ließ unser Blut gefrieren. Wir stiegen in die Linie A und sahen einander ratlos an.
Am anderen Ende des Waggons saßen zwei Obdachlose. Der eine war eingeschlafen oder betrunken oder tot. Der andere beobachtete uns, holte eine Zigarette heraus, zündete sie an und steckte sie dem Toten zwischen die Lippen. Er lachte uns an.
Tracy lachte zurück. Sie lachte freudlos, bis die Tränen über ihre Wangen liefen. Sie heulte. Sie weinte.
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50
San Francisco
U m zwei Uhr am nächsten Nachmittag weckte Bix mich auf. Ich betrachtete das Heft. Die Geschichte darin ging ganz anders – es war die Geschichte, in der Cynthias verrückte Tante Eleanor zu Besuch kommt und die Kammerzofe
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