Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft
Industrienationen immer mehr an die Schwellenländer von vor zehn Jahren: Nun fanden
die aus dem Ausland finanzierten Booms hier statt. Die Spekulationsblase auf dem amerikanischen Immobilienmarkt wurde beispielsweise
zum großen Teil von Ausländern finanziert, die während des Booms über die Hälfte der mit Hypotheken und anderen Forderungen
besicherten Wertpapiere aufkauften. Als die Immobilienpreise immer weiter anzogen, fühlten sich die Amerikaner reicher, sparten
weniger, gaben mehr Geld aus und trieben das Leistungsbilanzdefizit in die Höhe. Die Bürger anderer Industrieländer verhielten
sich ähnlich. Zwar haben sich die Leistungsbilanzdefizite nach der Finanzkrise verringert, doch keines der betreffenden Länder
dürfte in absehbarerer Zukunft Überschüsse verzeichnen.
Diese Entwicklungen widersprechen der gängigen Lehrmeinung und den historischen Präzedenzfällen. Normalerweise haben Industrieländer
Leistungsbilanzüberschüsse und Schwellenländer Leistungsbilanzdefizite. In den Industrieländern angesammeltes Kapital wird
früher oder später in Schwellenländer investiert, nicht umgekehrt. Doch wir leben heute in einer Welt, in der immer mehr das
Gegenteil der Fall ist – die Welt steht gewissermaßen kopf.
Rashomon
Die Debatte um die Leistungsbilanzungleichgewichte erinnert an den Kinoklassiker
Rashomon
von Akira Kurosawa. Der Film erzählt die Geschichte eines schrecklichen Verbrechens, das in einem Wald begangen wurde. Verschiedene
Personen berichten von dem schlimmen Ereignis, doch jeder von ihnen erzählt eine andere Version und nennt einen anderen Schuldigen. 3
Wie in dem Film das Verbrechen, ist auch die Existenz der globalen Ungleichgewichte unbestritten. Alle sind sich einig, dass
die Bilanzungleichgewichte groß sind und weiter wachsen. Die Vereinigten |331| Staaten und einige andere Industrienationen leben über ihre Verhältnisse, während der größte Teil der übrigen Welt – vor allem
China, die asiatischen Schwellenländer, verschiedene erdölexportierende Länder, lateinamerikanische Staaten sowie Deutschland
und eine Hand voll andere europäischer Länder – das genaue Gegenteil tut. Doch wer der Schuldige ist und wer bestraft werden
sollte, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass in Wirtschaftskreisen viele verschiedene Versionen dieses »Verbrechens« in Umlauf
sind. Manche der Anschuldigungen und Alibis sind zwar mehr oder minder wahr, doch es kursieren auch viele falsche Informationen.
Es muss daher reiner Tisch gemacht werden, um ein paar zentrale Fragen beantworten zu können: Warum sind diese Ungleichgewichte
in den letzten Jahren entstanden? Sind sie von Dauer? Wenn nicht, wer sollte etwas dagegen unternehmen?
Beginnen wir mit einer eher fadenscheinigen Erklärung des Leistungsbilanzdefizits, der sogenannten »These der Dunklen Materie«. 4 Anhänger dieses Märchens, allen voran die Wirtschaftswissenschaftler Ricardo Hausmann und Federico Sturzenegger, behaupten,
wenn das Leistungsbilanzdefizit tatsächlich so groß wäre, wie die amtlichen Zahlen besagen, könnten sich die Vereinigten Staaten
wohl kaum zu so niedrigen Zinsen in der übrigen Welt Geld leihen. Die selben Wirtschaftsfachleute führen ins Feld, dass die
Vereinigten Staaten mit ihren Anlagen im Ausland höhere Erträge erzielten als Ausländer auf ihre amerikanischen Investitionen,
was im Kontext eines massiven Leistungsbilanzdefizits ebenfalls schwer nachvollziehbar sei.
Ihre Erklärung ist einfach: Es gibt gar kein Leistungsbilanzdefizit. Dies sei, so führten sie aus, »lediglich eine von einem
unnatürlichen Bilanzierungsregelwerk verursachte Verwirrung«. In Wirklichkeit gebe es da draußen »dunkle Materie«, die von
den geltenden Bilanzierungsregeln nicht erfasst werde. Diese wertvolle dunkle Materie sei schwer zu bepreisen, weil sie aus
den immateriellen Dingen bestehe, die die Vereinigten Staaten zu bieten hätten, beispielsweise |332| Versicherung, Liquidität und Wissen. Der Wissensaspekt wird von den Autoren besonders hervorgehoben. Sie behaupten, dass überlegenes
»Know-how, das im Ausland von amerikanischen Unternehmen eingesetzt« würde, nicht in die Statistik einfließe und das ganze
Gerede über ein Leistungsbilanzdefizit Unfug sei.
Diese These wurde in vielen Punkten angefochten. 5 So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Ausländer, die ihr Geld in den
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