Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Achtsamkeit.
Und dann gibt es noch einen anderen wichtigen Punkt, auf den ich immer wieder zu sprechen komme, und ich hoffe, du verstehst, was ich meine: Man muss sich bewusst sein, was einem geschieht. Nichts auf die leichte Schulter nehmen. Man muss achtsam sein und sich Zeit zum Alleinsein nehmen, zum Schweigen, zum Nachdenken, zum Abstandgewinnen. Und man muss hinsehen.
SASKIA: Hast du das als junger Mann auch getan?
TIZIANO: Von wegen!
Saskia lacht.
Doch unterwegs habe ich es gelernt. In Japan habe ich damit angefangen, mit Fliegen ohne Flügel ging es weiter, bis ich endlich die schwerste Bürde abgeworfen habe: meine Identität.
Noch einmal taucht Mama auf.
ANGELA: Das Frühstück ist fertig.
SASKIA: Gut. Wir haben nur ein wenig geplaudert.
TIZIANO: Schön war das. Und denk daran, Saskia: Versuch dich nie zu wiederholen! Und lebe im Jetzt! Die Vergangenheit existiert nicht, sie ist nichts als ein Haufen Erinnerungen, die du sammeln, neu ordnen und auch fälschen kannst. Im Jetzt hingegen gibt es nichts zu fälschen. Und die Zukunft? Eine Schachtel voller Erwartungen und Illusionen. Wer sagt denn, dass sie sich je erfüllen werden? „Heute arbeite ich, aber sobald ich pensioniert bin, gehe ich jeden Tag angeln.“Wer weiß, ob es dann überhaupt noch Fische gibt? Das Leben findet jetzt statt, in diesem Moment, und in diesem Moment will es gelebt werden.
Ach Saskia, wie schön, dass du gekommen bist! Und vergiss nicht, ich werde immer da sein. Dort oben, in der Luft. Und möchtest du einmal mit mir sprechen, setz dich einfach ein wenig abseits, schließ die Augen und such mich. Dann reden wir. Aber nicht in der Sprache der Wörter. In der Stille.
KUCKUCK
TIZIANO: Weißt du, was ich empfinde, Folco? Dass ich am Ende meiner Reise - meiner längsten, der Reise meines Lebens - wirklich am Ziel angekommen bin. Dies ist die Endstation, und zurückfahren möchte ich nicht mehr. Wie schön, dass du bei mir gewesen bist! Hättest du gerade eine Arbeit gehabt, wäre es unmöglich gewesen, diese drei Monate zusammen zu verbringen.
FOLCO: Dann wäre ich nur am Wochenende gekommen.
TIZIANO: Wir haben es wirklich gut - jedem von uns beiden ist es gelungen, sich sein ganz eigenes Leben zu erfinden. Gut, für mich ist es nun vorbei, mir bleiben wirklich nur noch ganz wenige Tage auf dieser Erde, in dieser Welt. Aber wie ich sehe, hast auch du jetzt …
Es war lang, unser Gespräch, und noch immer bin ich hier, warte und freue mich an der Natur. Wir haben begonnen, als der Kuckuck zum ersten Mal rief, und nun ist er fort.
Am ersten April
Der Kuckuck kommen will.
Ist er am achten noch nicht da
Ist er tot oder krank.
Er ruft der Monate drei,
dann ist er wieder frei.
Ja, so ist es, denn dann hat der Kuckuck sein Schicksal erfüllt. Er hat ein fremdes Nest gefunden, die Eier hinausgeworfen, sein eigenes hineingelegt und ist dann fortgeflogen. Und im Frühling darauf lassen seine Jungen ihre Kuckucksrufe erschallen.
Es stimmt, in dem Vogelgezwitscher um uns herum ist kein Kuckuck mehr zu hören.
FOLCO: Wirft er die Eier des anderen Vogels wirklich aus dem Nest, oder legt er die seinen dazu?
TIZIANO: Nein, nein, er wirft sie hinaus! Oder er trinkt sie, jedenfalls macht er sie kaputt. Frag Mario und Brunalba, die erklären dir das. Wenn die Paarungszeit kommt, ist der Kuckuck einfach zu faul, um sich um den Nestbau zu kümmern. Lieber sucht er sich das Nest eines Rotkehlchens, wirft dessen Eier raus und ersetzt sie durch sein eigenes, denn er legt nur eines. Und die Rotkehlchenmutter, dumm wie sie ist, merkt nichts und brütet es ihm aus. Kein anderer Vogel würde so etwas tun. Erst wenn das Junge schlüpft, fällt ihr auf, dass es kein Rotkehlchen ist, sondern ein Kuckuck!
Er lacht lange, wenn auch leise und matt.
Schön, nicht? Die Natur geht ihren Gang. Was kümmert es sie, dass du stirbst? Dass du krank bist und Schmerzen hast? Es wird schon vorübergehen. Alles geht vorüber, auch Krankheit und Schmerz.
Das ist die ganz, ganz große Lehre der Natur. Hältst du auch nur einen Moment inne und beobachtest die Blätter der Birke, die dort so sanft und geheimnisvoll im Wind flattern, verstehst du, dass der Zustand meines Körpers, der mir so zu schaffen macht, absolut unerheblich ist. Die Natur verharrt in majestätischer Gleichgültigkeit, nichts erschüttert sie, nichts erregt sie. Warum sollten wir nicht von ihr lernen? Lernen, uns weder aufzuregen noch in Tränen auszubrechen?
Dann könnten wir
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