Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
endlich alles geschehen lassen, ohne ein Drama daraus zu machen. Denn es ist keines. Für nichts und niemanden. Für diesen Baum nicht, und auch nicht für diese Wiese und die unscheinbaren, gelben Blümchen, die niemandem auffallen und die in ihrem täglichen Wachsen und Wandeln doch Teil dieses großen Ganzen sind.
Sieh dich nur um, Folco, der Fluss, die Wälder, diese wunderschöne Natur in ihrem ewigem Wechsel, der einzig darin besteht, immer wieder zu dem zu werden, was sie im Vorjahr war. Was kümmert sie das menschliche Treiben, was kümmern sie die Tagesereignisse, die Kriege, Pol Pot, Mao, Amerika und der Terrorismus - was kümmert sie das! Alles ist flüchtig, alles vergänglich. Großartige Kulturen - ausgelöscht! Die Sphinx, die aus dem Sand ragt, doch um sie herum gibt es nichts mehr zu sehen. Und so wird auch alles andere enden.
Doch wir sind jetzt hier.
In Orsigna, mitten in dieser herrlichen Natur! Dies ist meine Endstation. Mein Zielhafen. Irgendwie hatte ich geahnt, dass nach all den Ländern Asiens, die ich so geliebt habe - Vietnam, Kambodscha, China und dann Indien - Orsigna meine letzte große Liebe sein würde. Hier fühle ich mich zu Hause, glücklich in der Umarmung dieser reinen Natur, dieser Größe und Schönheit. Eine herrlichere Umarmung kann man sich nicht vorstellen. Irgendwie dringt diese Schönheit in dich ein und gibt dir die Dimension von etwas, was dir zwar nicht gehört, aber doch auch dein ist und von dem du ein Teil bist.
Alldem gegenüber ist deine Existenz so nebensächlich wie das Niesen einer Ameise. Mein Tod - pah! Zum Lachen! Überleg mal, wie viele Vögel gerade jetzt sterben, wie viele Ameisen zertrampelt werden, wie viele Menschen durch Krankheit, Alter oder Gewalt ihr Leben lassen. Alles stirbt. Der Gott Krishna hat das sehr schön gesagt: Alles, was geboren wird, stirbt, und alles, was stirbt, wird wieder geboren. Auch ich empfinde das Ende als Anfang. Der Anfang ist mein Ende, und das Ende ist mein Anfang. Denn ich bin immer mehr davon überzeugt, dass es eine typisch westliche Illusion ist, die Zeit für etwas Geradliniges zu halten, für Fortschritt. Nein, die Zeit ist nicht vorwärtsgerichtet. Sie wiederholt sich, sie dreht sich um sich selbst. Die Zeit ist kreisförmig. Das empfinde ich ganz stark. Und das sieht man auch an den Fakten, an der Banalität der Fakten, an den Kriegen, die sich immerfort wiederholen.
Die Inder haben das ganz tief verinnerlicht. Ihre gesamte Mythologie basiert auf dem ständigen Zyklus von Schöpfung und Vernichtung. Und sie haben recht, es gibt keine Schöpfung ohne Vernichtung, und so besteht ihre Dreieinigkeit aus dem Schöpfer, dem Erhalter und dem Zerstörer. Der Zerstörer kommt vorbei und vernichtet alles, ratsch! So kann der Schöpfer wieder schöpfen, der Erhalter wieder erhalten und der Zerstörer wieder zerstören.
Doch empfinde ich das nicht deshalb als Trost, weil ich auf meine Rückkehr hoffe, keineswegs. Ich glaube, eines der wenigen Dinge, die ich gelernt habe, die ich in der Einsamkeit meiner Hütte im Himalaja wirklich verinnerlicht habe, ist, auf jeden Wunsch zu verzichten. Das ist die wahre, die letzte große Form von Freiheit. Und ich glaube, das ist mir gelungen. Ich wünsche mir nichts mehr. Bestimmt kein längeres Leben, aber auch nicht jene Form von Unsterblichkeit, die man mit Sätzen meint wie: „Mein Leben endet, aber es beginnt auch wieder von vorn, und das tröstet mich.“Das ist es nicht, was ich empfinde. Ich spüre einfach die Schönheit, die darin liegt, dass alles, was endet, von Neuem beginnt. Denn so ist das Universum. In einem Samen, der zufällig irgendwo auf den Boden fällt, steckt bereits ein mächtiger Baum. Der Samen scheint vertrocknet, er sieht aus wie tot. Und doch beginnt mit ihm alles wieder neu. Diese Schönheit sehe ich inzwischen überall, sogar im Ende meines irdischen Lebens.
Ich spüre, wie mein Leben entweicht und doch nicht entweicht, denn es ist Teil des Lebens all dieser Bäume, des Lebens an sich. Wunderbar, sich im Leben dieses Kosmos aufzulösen und Teil des Ganzen zu sein. Mein Leben ist gar nicht meines, es ist das Leben des Seins, das kosmische Leben, zu dem auch ich gehöre. Daher verliere ich nichts, wenn ich mich von meinem Körper löse. Nichts.
Deshalb ist dies das Ende, aber auch der Anfang.
Ein Bild, das mir bei diesem Prozess der Loslösung von meinem Körper fast täglich in den Sinn kommt, ist das eines Zen-Mönchs, der sich in der Stille seiner
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