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Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens

Titel: Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiziano Terzani
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Medizin oder Wirtschaft studierten - einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Wir studierten, weil wir uns, wie soll ich sagen, berufen fühlten, auf unsere kranke, kaputte und übrigens auch ungerechte Gesellschaft einzuwirken und sie zu verändern. Der eine wollte Rechtsanwalt werden, um die Interessen der Armen zu vertreten, manch anderer Politiker oder Diplomat. Finanzberater, was heute so viele machen, wollte keiner werden. Wir wussten nicht einmal, dass es so was gab. Das war kein Altruismus, es war einfach unsere Aufgabe. Wir empfanden uns als Elite, wir empfanden es als Privileg, studieren zu dürfen, und fanden es ganz natürlich - das hatte mit Ideologie überhaupt nichts zu tun - uns bei der Gesellschaft für etwas zu revanchieren, was sie uns gegeben hatte.
    Ideologisch gab es zu jener Zeit zwei große Alternativen: Gandhi und Mao. Und jung, wie ich war, konnte ich gar nicht anders, als von diesen Männern fasziniert zu sein, die mit einem riesigen gesellschaftlichen Material, einem Material von Hunderten von Millionen von Menschen - das war ja nicht Andorra, das war ja nicht Campanellas Utopie des Sonnenstaats, das waren Indien , China! - also, ich konnte gar nicht anders, als aufrichtig begeistert zu sein von diesen Männern, die eine Gesellschaft schaffen wollten, die nicht nach den Kriterien des Profits, des Geldes, des Materialismus funktionierte. Deshalb las ich Gandhi, deshalb las ich Mao.
    Stell dir vor, man sprach damals von „Gesellschaftstechnik“! Was machte Mao? Ein gesellschaftstechnisches Experiment. So wie du beim Bau einer Brücke bestimmte Kriterien berücksichtigst, damit sie nicht einstürzt, so ähnlich stellst du auch die Gesellschaft neu auf die Beine. In China wurde damals das größte gesellschaftstechnische Experiment der Welt durchgeführt. Daher rührte meine Neugier für diese Themen, das ernsthafte Interesse daran, wie man die Gesellschaft verändern kann.
    Du musst verstehen, Folco, dass meine Geschichte auch die Geschichte eines sozialen Aufstiegs ist. Ich bin arm geboren und habe diese Armut überwinden müssen. Nicht finanziell, sondern sozial, durch mein soziales Engagement. Das ist die Geschichte meines Lebens.
    Damit das klar ist: Leute wie ich hatten keineswegs im Sinn, dieses Modell auf die westliche Welt zu übertragen. Es war vielmehr für die Entwicklungsländer gedacht. Ständig redete man damals über die Dritte Welt, wo gerade der Kolonialismus abgeschafft wurde. Man identifizierte sich mit der Dritten Welt gegen die kapitalistische Welt, man identifizierte sich mit den Unterdrückten, mit der Klasse der Entrechteten. Das war Teil unseres Klassenkampfes.
    Das Ende des Kolonialismus - überleg doch mal, was das hieß! Als Roosevelt und Churchill sich seinerzeit in Neufundland trafen, wollte Churchill Roosevelt unbedingt dazu bewegen, an Großbritanniens Seite in den Krieg gegen die Nazis einzusteigen, aber Roosevelt wollte nichts davon wissen. Am Ende lässt er sich darauf ein, aber nur unter der Bedingung, dass Großbritannien nach dem Krieg auf all seine Kolonien verzichtet. Churchill unterschreibt die Klausel, auch wenn er nicht im Geringsten die Absicht hat, seine Verpflichtung einzuhalten. Doch dann hat die Geschichte ihn dazu gezwungen.
    Meine Generation hat das Ende der britischen Kolonialmacht miterlebt, das Ende aller Kolonien, einer nach der anderen: der holländischen, der französischen und vor allem der englischen. Donnerwetter, stell dir das doch mal vor! Was für ungeheure gesellschaftliche Umwälzungen das damals in der ganzen Welt ausgelöst hat! Das bestärkte uns noch in der Vorstellung, wenn man nur die Materie kannte, wenn man nur ihre historischen Regeln kannte, könne man gezielt eingreifen, um diese neuen Gesellschaften zu gerechteren, fortschrittlicheren, meinetwegen sozialistischeren Gesellschaften zu machen, im Sinne von mehr Gleichheit und weniger Ungerechtigkeit.
    FOLCO: Die Dritte Welt wird also entkolonialisiert, und wo die westlichen Mächte abziehen, tut sich die Möglichkeit auf, einen neuen Gesellschaftstypus zu schaffen, eine Alternative zum Entwicklungsmodell des Westens.
    War die Sowjetunion das nicht auch?
    TIZIANO: Die UdSSR war zum Scheitern verurteilt, das war klar.
    FOLCO: Damals schon?
    TIZIANO: Ja, wenn du bedenkst, dass Chruschtschow 1956, auf dem XX. Parteitag der KPdSU, Stalins Verbrechen offenbart hatte. Dann folgten der Einmarsch in Ungarn und in der Tschechoslowakei und die Aufstände in Osteuropa. Es war

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