Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
doch offensichtlich, dass die Sowjetunion kein Vorbild mehr sein konnte.
FOLCO: Und Amerika?
TIZIANO: In den Augen von uns jungen Leuten war Amerika ein schreckliches Land. Der Vietnamkrieg war bereits im Gange. Amerika war das genaue Gegenteil von dem, was wir erträumten. Vergiss nicht, dass ich mit dem Che aufgewachsen bin, mit Che Guevara.
FOLCO: Ach, die Zeit war das?
TIZIANO: Ein anderes Vorbild war für uns dieser Rechtsanwalt aus guter Familie mit dem Rauschebart …
FOLCO: Fidel Castro?
TIZIANO: Ja, einer, der an der Spitze einer Bande von armen Schluckern die amerikanische Supermacht herausfordert, den von ihr unterstützten Diktator Batista stürzt und Kuba zu einer sozialistischen Republik erklärt. Das ist doch Wahnsinn, oder?
Aber noch viel interessanter war der andere, der Argentinier, der an die ständige Revolution glaubte und sie nach ganz Lateinamerika bringen wollte. Castros Revolution ist gelungen, und Castro macht den Che zum Minister, zum Botschafter, was immer er will. Der Che aber schwingt sich ein Gewehr über die Schulter und zieht mit ein paar Freunden los, um Lateinamerika zu befreien, wo in jedem Land ein von den Vereinigten Staaten unterstützter Diktator sitzt. Deshalb haben die Jugendlichen auch heute noch seine T-Shirts an. Weil er ein Held war! Und sein Tod ihn zum Mythos gemacht hat. Später lasen wir seine Tagebücher, das Ergreifendste, was man sich vorstellen kann. Mit diesen Helden sind wir aufgewachsen.
Entschuldige, Folco, ich glaube, ich muss aufhören. Ich leg mich hin, heute ist kein guter Tag.
FOLCO: Ja, hör ruhig auf. Wir können den Faden ja später wieder aufnehmen.
Papa steht auf und geht langsam zu seiner Gompa hinten im Garten, um ein Nickerchen zu machen. Er wird jetzt immer schnell müde, aber wir haben ja keine Eile. Die Tage sind lang und vergehen ohne Störungen, das Telefon bleibt fast immer still, Besuche kommen keine. Nach einer Stunde taucht er wieder auf.
TIZIANO: Folco! Folco!
FOLCO: Na, hast du etwas Schönes geträumt?
TIZIANO: „ It is here, it is here, it is here! Wenn es ein Paradies auf Erden gibt, dann ist es hier, ist es hier, ist es hier!“Nicht in Kaschmir, nicht im Garten von Shaliman.
FOLCO: Wer hat das gesagt? Irgendein Mogulherrscher?
TIZIANO: Hm. Wie schön! Ich habe eine wunderschöne Stunde verbracht.
FOLCO: Also, Papa - als du in Pisa warst, da kanntest du Mama schon, stimmt’s?
TIZIANO: Ja, wir haben uns in Florenz kennen gelernt, gleich nach dem Abitur. Sie war aus einer deutschen Familie und ist deshalb zum Studieren nach München gegangen. Wie das bei jungen Paaren eben so ist, schrieben wir uns immerzu. Aber du weißt ja, das Leben ist kompliziert, wir hatten diverse Krisen, es ging immer auf und ab. Irgendwann hatte ich die Nase voll. Ich fand, so konnte das nicht weitergehen, und fuhr unangemeldet nach München, nachdem ich mir die Zugfahrkarte mit Adressenschreiben verdient hatte. Hunderte von Adressen für einen fiesen, schleimigen Antiquitätenhändler, der Priester anschrieb: „Besitzen Sie alte Stühle, Bänke oder Kommoden? Ich bin bereit, sie Ihnen gegen einen Fernseher einzutauschen…“
Er lacht.
FOLCO: Und du hast diese Briefe geschrieben?
TIZIANO: Nur die Adressen, die auf einer Liste der Kurie standen. Dann fuhr ich nach München, nahm all meinen Mut zusammen und sagte zu deiner Mutter: „Entweder wir ziehen zusammen, oder wir lassen das Ganze.“
So kamen wir nach Italien zurück. Deine Mutter hatte von ihrer Großmutter, der aus Haiti, zwei wunderschöne Ringe aus dem 19. Jahrhundert mit lauter Smaragden und Rubinen geerbt, die immer noch in der Familie sind. Die brachten wir zum Pfandhaus, bei dem ich mich ja, wie du weißt, bestens auskannte! Man gab uns, was weiß ich, fünfzigtausend Lire, eine ungeheure Summe, und dafür kauften wir uns über einen befreundeten Automechaniker einen gebrauchten Topolino 500. Mama klaute zu Hause zwei Matratzen, die wir ins Auto luden, zusammen mit einer Gitarre und den Büchern, die ich für meine Examensarbeit brauchte, und dann fuhren wir ans Meer, nach Marina di Massa. Wir hatten wieder einmal Glück: Eine Familie von Marmorschleifern bot uns eine leere Fischerhütte mitten in einem Tomatenfeld an. Zwei Zimmer und Küche - ah! Nur drei Kilometer vom Strand entfernt, einem damals noch ganz wilden Strand, wo wir jeden Tag badeten. Wir legten die Matratzen auf den Boden, fuhren mit dem Topolino herum, sammelten am Strand große Steine und angespülte
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