Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
ließen, die sich der amerikanischen Weltanschauung widersetzten, genau wie im Chile Pinochets oder unter der argentinischen Militärjunta.
Und dann wurde Che Guevara umgebracht. Mama und ich saßen in der Bibliothek der Columbia University - das weiß ich noch wie heute -, als wir das in der New York Times lasen. FOLCO: In den Jahren ist wirklich eine Menge passiert! TIZIANO: Ja, historisch war das ein spannender Moment. 1968: Paris brennt, auf der Straße Revolution, Cohn-Bendit, jeden Tag Zusammenstöße zwischen Studenten und Polizei. Der Slogan: „Die Phantasie an die Macht!“Uns junge Leute hat das enorm inspiriert, wie du dir vorstellen kannst. Den Jugendlichen von heute fehlt so etwas, sie sind wirklich zu bemitleiden: nichts, woran sie glauben, keine Ideale, für die sie sich engagieren können. Die interessieren sich doch nur für Fußball, Motorräder, Sport oder Mode. Findest du es normal, dass das Herz eines Jugendlichen nur für eine Fußballmannschaft schlägt? Da kann doch etwas nicht stimmen. Uns verband damals die Bewunderung für Che Guevara. Als Politiker kannst du von ihm halten, was du willst, aber Größe hatte er, das ist keine Frage! FOLCO: Und wieso wolltest du unbedingt Chinesisch studieren? TIZIANO: Ich suchte nach einer Alternative für die westliche Welt, nach einem anderen Modell, und auf dem Papier - und darauf waren wir ja angewiesen, denn wir hatten nun einmal kein anderes Material als Maos Texte - war China genau das.
Man darf nicht vergessen - auch um unsere verzerrte Perspektive zu begreifen -, dass ich Chinesisch an der Columbia University studierte, die damals der Mittelpunkt der Chinaforschung war und wo die besten Professoren dieses Fachs lehrten. Überleg mal, was das politisch und ideologisch für eine Zeit war. Die Propagandamaschine der Chinesen war seit’49 in Bewegung, und es gab Berge von Texten und Dokumenten, die verdaut werden wollten. Die kleine rote Mao-Bibel! Für mich waren die beiden Jahre in New York eine regelrechte Orgie von Studien über den Traum von einer neuen Gesellschaft. Die chinesische war das in vieler Hinsicht, jedenfalls auf dem Papier.
Die Art und Weise, in der China sich damals der Welt präsentierte, war einmalig. Diese Delegationen, die in den Westen kamen: ernsthaft, engagiert, alle gleich gekleidet; diese Zeitschriften wie die Peking Review oder China Reconstructs , die in allen Sprachen erschienen und eine völlig neue Welt beschrieben, sogar mit Farbfotos - umwerfend! Für uns aus dem materialistischen, profitorientierten Westen, wo sich alles nur ums Geld drehte, war das eine Gesellschaft, wo die Arbeiter in den großen Fabriken während der Pause über die neue politische Kampagne gegen den Konfuzianismus diskutierten. Nach meinem Job bei Olivetti, einem Unternehmen, das mit seiner kleinen Schreibmaschinenfabrik ja etwas Ähnliches zu verwirklichen suchte, war das für mich doch hochinteressant!
Was da auf dem Papier beschrieben wurde, war ein Land, in dem die Arbeiter ihren Job nicht in erster Linie machten, um Geld zu verdienen. Natürlich bekamen sie auch ihre Punktekarten dafür, mit denen sie sich etwas kaufen konnten, doch eine andere Komponente ihrer Vergütung war der moralische Ansporn. Diese Vision eines neuen Menschen, der nicht nur für Geld arbeitet, sondern auch für ein großes gemeinsames Projekt, musste uns doch faszinieren. Man war ein Vorbild für das Volk, man arbeitete, um am Aufbau eines neuen Landes mitzuwirken. Und zum Teil ist das tatsächlich so gewesen, das haben wir mit eigenen Augen gesehen, als wir schließlich nach China zogen. Die Konsequenzen mögen erbärmlich, ja katastrophal gewesen sein, aber die Menschen hatten daran geglaubt. Unter haarsträubenden Bedingungen hatten sie auf den Ölfeldern von Daqing gearbeitet, hatten in Schneelöchern geschlafen, um die Förderanlagen zu bauen, die China in die Zukunft katapultieren sollten - nicht um mehr zu verdienen als die Fabrikarbeiter, sondern weil es eine Ehre war, dem Fortschritt des Landes zu dienen! FOLCO: Wirklich eine neue Gesellschaft.
TIZIANO: Ja, der Maoismus wollte tatsächlich eine Gesellschaft aufbauen, in der die Ungerechtigkeiten eingedämmt waren und dem bitterarmen Volk ein passables Leben garantiert wurde. Und wenn man überlegt, was Mao machte, dann war das gar nicht so dumm. Dank der „eisernen Reisschale“hatten zumindest alle zu essen: Jeden Tag konntest du in die Kommune gehen und bekamst dort einen dampfenden Teller Reis mit
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