Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Echt.
WAHRSAGER
TIZIANO: Als wir das Schildkrötenhaus im Jahre 1994 nach vier Jahren Bangkok verließen, verbrachte ich viele wunderbare Monate allein, um Fliegen ohne Flügel zu schreiben. Ich wohnte an einem endlosen weißen Sandstrand direkt an einem herrlich warmen Meer, wo es außer ein paar Rudeln streunender Hunde niemanden gab. Mama, die mir wieder einmal eine Zeit des Alleinseins zugestand, war in Bangkok zu einer Freundin gezogen und kam mich hin und wieder mit dem Bus besuchen. Ich wohnte in einem einfachen Bungalow und kochte mir Reis und Gemüse. Einmal die Woche ging ich zum Einkaufen nach Ban Phe auf den kleinen Fischmarkt.
Ich schrieb von morgens bis abends, ich war ganz erfüllt von all den Geschichten für dieses Buch, das erste, mit dem ich dem Journalismus den Rücken kehrte. Der vorgegebene Umfang, der Aufhänger, den jeder Artikel braucht, all das war mir unerträglich geworden. Nun brach ich damit. Dieses Leben war zu Ende. Es war herrlich gewesen, aber nun war es zu Ende.
FOLCO: Du hast es mal deinen goldenen Käfig genannt, und am Ende der Jahre in Thailand hast du den Weg gefunden, ihn zu verlassen.
TIZIANO: Ja, dank der Reisen ohne Flugzeug kreuz und quer durch Asien, dank der Meditation, dem Leben in meiner Hütte am Meer, der Einsamkeit, dem Beginn meiner Nabelschau. Und schließlich durch das Leben in Indien. Aber darüber sprechen wir ein andermal.
FOLCO: Einmal habe ich dich am Strand von Ban Phe besucht.
TIZIANO: Hm, das weiß ich noch genau.
FOLCO: Du warst damals in einer vollkommen neuen geistigen Dimension.
TIZIANO: Ja, ich war bereits aufgebrochen.
FOLCO: Nach zwei, drei Tagen sind wir uns wie üblich in die Wolle geraten, weshalb, weiß ich nicht mehr. Doch statt wütend zu werden, hast du dich abgewandt, in eine Ecke gesetzt und zu meditieren begonnen. Ich war verblüfft, so hattest du noch nie reagiert. Dann gabst du mir dein fast fertiges Manuskript zu lesen. Du warst dir nicht sicher, ob der Ansatz nicht vielleicht völlig abwegig war. Ich meinte: „Die Welt scheint sich zu ändern, ich glaube, inzwischen ist es auch möglich, über Wahrsager zu schreiben.“
TIZIANO: Manchmal muss man ein Risiko eingehen. Ich habe das Buch voller Bangen geschrieben, und bevor ich es dem Verleger schickte, ließ ich es Mama und ein paar Freunde lesen, deren Urteil ich vertraute. Ich wollte doch nicht für verrückt gehalten werden! Schließlich war ich noch immer Tiziano Terzani, musste für die Journale über Kommunismus, Krieg und so weiter schreiben und wollte nicht, dass die Leute sagten: „Der hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
Doch mit dem Wagnis, Länder und Kulturen nicht mit dem Blick auf die Tatsachen zu beschreiben, sondern mit dem Blick dahinter , hatte ich voll ins Schwarze getroffen! Man braucht nur an Deng Xiaoping zu denken, der die Uhrzeit seiner Geburt ängstlich geheim hielt. Der Generalsekretär der kommunistischen Partei Chinas, der Angst hatte, jemand könne durch astrologische Berechnungen Macht über ihn gewinnen.
Schließlich war ich mit Fliegen ohne Flügel fertig. Ich besaß das Original und eine Kopie. Eines Nachts, es muss gegen Mitternacht gewesen sein und ein herrlicher Mond leuchtete über dem spiegelglatten Meer, zog ich mich splitternackt aus, packte die Kopie - so blöd war ich nicht! - und verstreute die Blätter übers Meer. Am nächsten Morgen fand ich sie alle am Strand wieder. Nun war es nicht mehr mein Buch, es war das Buch meiner Leser.
FOLCO: Dieses Buch markiert einen Wendepunkt in deinem Leben. Danach hast du dich auf eine andere Ebene begeben, denn Zeitungen sind wie Röntgenstrahlen, sie bilden nur Dinge einer bestimmten Dichte ab; du aber hattest begonnen, dich für Geschichten aus einem anderen Stoff zu interessieren. Was mich erstaunt, ist allerdings, dass der SPIEGEL da mitgespielt hat; und obendrein damit einverstanden war, dass sein Asienkorrespondent ein Jahr lang kein Flugzeug besteigen würde!
TIZIANO: Weißt du, von Thailand aus hatte ich die Geschehnisse in Asien weiter als Journalist verfolgt. Ich war nach Kambodscha geflogen und auf die Philippinen, als der Vulkan Pinatubo ausbrach, nach Indien, als Rajif Gandhi ermordet wurde, und nach Bangladesch. Aber im Grunde hatte ich es satt, auf diese Weise durch die Weltgeschichte zu jetten, und war jedes Mal ziemlich verzweifelt, wenn ich wieder los musste.
Also traf ich Ende 1992 eine folgenschwere Entscheidung. Der Chefredakteur des SPIEGEL war uns im
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