Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
eigentlich kennengelernt?
TIZIANO: Gute Frage!
Er lacht.
FOLCO: Sie ist die Gefährtin deines ganzen Lebens gewesen, aber wie ihr euch kennengelernt habt, habt ihr uns nie erzählt.
Papa denkt lange nach.
TIZIANO: Also: Ich verkehrte in einer netten Familie mit mehreren Töchtern, alles rechtschaffene, adrette Mädchen. Der Vater war Antiquitätenhändler. Kurz nach dem Abitur rief ich eines Tages eine der Töchter an, ein hübsches Mädchen, das in Florenz viele Verehrer hatte, und meinte: „Ich komme heute vorbei, ja?“- „Nein, heute geht nicht. Heute kommt meine deutsche Freundin.“
Sie hatte mir von dieser deutschen Freundin bereits erzählt, hielt mich jedoch für einen Schürzenjäger und fürchtete, ich könne ihre Freundin verführen und dann sitzen lassen. Natürlich ging ich sofort hin!
Ich war gerade angekommen und wartete in dem mit antiken Möbeln voll gestopften Wohnzimmer, als ein Mädchen eintrat. Folco, sie war das exakte Gegenteil von dem, was in Florenz damals gefragt war! Auch wenn sie es nicht gern hört: Sie war alles andere als eine Schönheit - blonde Strähnen, schlecht gekleidet und dazu eine große Einkaufstasche …
Die Stimme versagt ihm vor Rührung.
Und doch war mir sofort klar: Sie war alles, wovon ich nur träumen konnte. Sie war anders. Anders als all die flotten Bienen mit ihren feschen Röcken und dem perfekt aufgelegten Lippenstift. Sie wirkte so natürlich. Ich war wie verzaubert und verfiel ihr im selben Augenblick.
Mama blieb sehr zurückhaltend, vielleicht weil sie gehört hatte, ich sei ein oberflächlicher Geck. Als ich nach Hause kam, entschloss ich mich zum ersten Mal in meinem Leben, wirklich etwas zu investieren. Ich schrieb einen langen Brief, den ich ihr per Eilboten zustellen ließ, und schilderte ihr meine Empfindungen. Und die haben sich nie mehr geändert. Schon einmal habe ich dir das gesagt: So wie das Urmeter, das in Paris unter einer Glashaube aufbewahrt wird, das Maß aller Meter ist, wurde sie zu meiner Maßeinheit.
Dabei darfst du nicht vergessen, dass ich ein fescher Bursche war und so viele Mädchen hatte, wie ich wollte. Einige liefen mir hinterher und versuchten, mich zu umgarnen, eine wollte mich sogar heiraten und meinte, ihr Vater könne mir eine gute Stelle an der Universität verschaffen. Doch von alledem wollte ich nichts wissen. Dabei war deine Mutter, wie ich schon sagte - meistens lacht sie, wenn sie das hört, aber manchmal ärgert sie sich auch ein bisschen - keine Schönheit. Später änderte sich das allerdings, mit dreißig war sie umwerfend, nachdem sie euch bekommen hatte.
FOLCO: Was also war so besonders an ihr?
TIZIANO: Sie war das Gegenteil von all den anderen. Und ich habe immer alles geliebt, was anders war! Sie war so echt und natürlich, so ehrlich, warmherzig und großzügig und von einer feinen, mitfühlenden Intelligenz.
Er lacht.
Baroni und andere Freunde von damals wissen noch genau, wie ich mich anfangs schämte, mich in der Stadt mit ihr sehen zu lassen. Normalerweise führen junge Männer ihre Freundinnen doch überall stolz vor, nicht? Ich hingegen wählte möglichst die Nebenstraßen, wenn wir ins Kino gingen, damit meine Kameraden mich nicht sahen und uns womöglich hinterherpfiffen.
Schon bald schrieb ich ihr täglich. Täglich. Und dann begannen wir, uns spät abends zu treffen. Nach dem Abendessen musste sie stundenlang bei ihrer Großmutter sitzen, die Patiencen legte. Eine merkwürdige Person, diese Großmutter, in Haiti geboren …
FOLCO: Und wieso musste Mama dabeisitzen?
TIZIANO: Um ihr Gesellschaft zu leisten. Nachdem ihre Eltern zu Bett gegangen waren, musste sie sich um diese alte Dame kümmern, die achtzig Jahre alt war, halb Deutsche, halb Französin, alles Mögliche gelesen hatte, Chateaubriand, Rousseau, und doch nie etwas Intelligentes von sich gab. Aber am Schluss ihres Lebens sagte sie einen Satz, der alles wettmachte: „Qu’est-ce que j’ai fait dans ma vie? Un peu de conversation.“ Ihr Leben hatte darin bestanden, ein wenig Konversation zu machen!
Nach dem Essen setzte sich diese Großmutter also in ihren alten Ohrensessel unter eine Lampe und legte ihre blöden Patiencen, und Mama musste zwei, drei Stunden bei ihr ausharren. Wenn die Großmutter endlich im Bett war - husch! -, rannte Mama nach draußen. Wir trafen uns immer unter einer Laterne am oberen Ende der Via delle Campora. Ich kam mit dem Fahrrad aus Monticelli - war das mühsam, diese schmalen, steilen Straßen
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