Das Ende meiner Sucht
beobachtete ich, wie sie blass wurde, als sie dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung zuhörte.
Sie legte auf und sagte: »Olivier, ich kann es Ihnen nicht verschreiben. Es tut mir sehr leid.«
Dass man mir die Standardmedikation für schwere Angstzustände vorenthielt, für die Verfassung, die mein Verlangen nachAlkohol auslöste und verstärkte, war bestenfalls kontraproduktiv und schlimmstenfalls gefühllos bis grausam. Hätte ich nicht unter Beobachtung des CPH gestanden, hätte Liz Khuri mich wie einen normalen Alkoholpatienten behandeln können. Ich dachte immer öfter darüber nach, wieder nach Frankreich zurückzugehen, wo ich mich um eine adäquate Behandlung kümmern konnte.
Unterdessen fühlte ich mich wie ein Schatten meiner selbst. Pflichtgemäß versuchte ich, wie man es mich in Marworth gelehrt hatte, starke Gefühle zu vermeiden, die meine Stimmung zu sehr in die Höhe heben oder zu tief sinken lassen konnten. Ich litt unter dem, was einer meiner Psychiater später als die »konformistische Abgestumpftheit« derjenigen bezeichnete, die versuchen, abstinent zu leben, während die zugrunde liegende Verstimmung unbehandelt bleibt. Jedes Quäntchen Energie, das ich aufbringen konnte, floss in die Anstrengung, dem Verlangen nach Alkohol zu widerstehen.
Erleichterung suchte ich in der Musik.
Ich war eng befreundet mit dem legendären Musikproduzenten Arif Mardin und seiner Frau Latife. Arif und ich hatten uns im August 1988 bei einer Party seines türkischen Landsmann Engin Ansay kennengelernt, eines Diplomaten, den ich durch Murat Sungar kannte. Arif war wie eine von Marcello Mastroiani gespielte Figur in einem Fellini-Film: ein Mann, der immer auf der Bühne steht, immer eine Vorstellung gibt, mit einem großartigen Gespür für eine dramatische Geste oder Bemerkung.
Die Mardins luden mich oft zu Partys und Abendessen in ihre weitläufige Wohnung am westlichen Central Park ein. Es war mir eine besondere Freude, dass Arif mich bei diesen Gelegenheiten regelmäßig bat, Klavier zu spielen, obwohl unter den anderen Gästen womöglich der eine oder andere außergewöhnliche Musiker war, mit dem er zusammenarbeitete. Ich spielte für Arif meine eigenen Kompositionen, die ihm so gut gefielen, dass er im Lauf der Jahre mehrere davon im Studio einspielen ließ, angefangen mit »Una flor en la memoria« (Eine Blume in der Erinnerung), ein Stück, das ich zusammenmit dem kubanischen Dichter und Romanschriftsteller Reinaldo Arenas geschrieben hatte, wie Arenas in seiner Autobiografie Bevor es Nacht wird erzählt. Arif sagte, so etwas habe er nie zuvor für einen Nicht-Profimusiker getan.
Im Frühjahr 1990 lud Arif mich wieder ein. »Ich möchte, dass du Bette Midler kennenlernst. Latife und ich laden nur dich und Bette und ihren Mann zum Dinner ein. Zu gegebener Zeit werde ich ihr den letzten Song von dir vorspielen, den ich arrangiert habe.« Arif und Bette Midler hatten als Produzent und Künstlerin kurz zuvor den Grammy in der Kategorie Single des Jahres für »Wind Beneath My Wings« bekommen, den Titelsong zum Film Beaches – Freundinnen. Als wir bei Kaffee und Dessert saßen, bat Arif mich, Klavier zu spielen. Ich hatte seinen Steinway-Konzertflügel immer gern gespielt und willigte mit Freuden ein.
Nach einer Weile überlegte ich, ob ich nicht die Komposition spielen sollte, die Arif Bette Midler vorführen wollte. Bevor ich dem Gedanken folgen konnte, bekam ich Angst, das könnte Arif in seiner Rolle als Gastgeber verletzen. Wenn er es gewollt hätte, hätte er es mir sicher gesagt, bevor ich mich ans Klavier setzte. Ich versuchte mir einzureden, dass er aus Rücksicht auf ihre wie meine Gefühle ihr den Song lieber unter vier Augen vorspielen oder die Noten zeigen wollte, damit sie es ganz offen sagen konnte, wenn sie nicht begeistert davon war.
Langsam breitete sich in meinem Kopf die Gewissheit aus, dass meine Kompositionen nicht wirklich gut waren. Unterdessen bewegten sich meine Finger selbständig über die Tasten, bedienten sich aus einem Repertoire, das unterhalb der Bewusstseinsschwelle lag. Ich wusste nicht, was ich spielte; dann hörte ich Bette Midler singen: »Non, rien de rien, non, je ne regrette rien«, den Anfang von Edith Piafs Song »Non, je ne regrette rien« (Nein, ich bedaure nichts).
Ich schaute vom Klavier auf und blickte Bette Midler an: eine kleine Frau, nicht viel größer als Edith Piaf selbst, die wie eine kleine stille Maus beim Abendessen gesessen hatte.
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