Das Ende meiner Sucht
Vater weinen konnte, bei einer Wanderung in den Alpen in der Nähe des Orts, wohin er mit mir und meinen Geschwistern immer gefahren war, als wir noch klein waren.
Silvester rückte näher, und Joan schlug vor, einen Tisch in einem Restaurant zu reservieren, um das neue Jahr zu feiern und die Tatsache, dass ich seit meiner Rückkehr aus Marworth nicht mehr trank. Ich war seit 115 Tagen trocken, die längste Zeit, die ich jemals geschafft hatte. Ich sagte zu Joan: »Bei den AA und in der Klinik empfehlen sie, nicht zu viel zu feiern. Ich habe Hanukka nicht gefeiert, Weihnachten nicht, und ich werde auch Silvester nicht feiern. Ein Tag nach dem anderen ist das Motto, und ein Tag sollte wie der andere sein. Ich verbringe einfach jeden Tag auf die gleiche Weise, ob Feiertag oder nicht. Patrick, ein Freund aus Marworth, kommt zu Besuch, wir werden einfach nur zusammensitzen und uns alles Gute wünschen. Ich fühle mich schon durch Patricks Besuch unter Druck. Ich möchte es nicht vermasseln und trinken, wenn er hier ist. Das wäre für uns beide eine Katastrophe.«
Joan, die keinen Alkohol trank, gefiel das nicht. »Wir sollten ausgehen und feiern wie alle anderen«, beharrte sie.
»Alle anderen trinken.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
Zu diesem Druck und meiner Trauer nach dem Tod von Maurice,den ich allerdings auf eine Ebene unterhalb der Bewusstseinsschwelle verdrängt hatte, gab es noch einen weiteren Stressfaktor. Meine Mutter hatte für den 27. Januar eine Feier organisiert anlässlich der Verleihung des Ordens der Ehrenlegion an mich, die Präsident Chirac beschlossen hatte, als ich in High Watch Farm war. Die neuen Namen werden dreimal im Jahr veröffentlicht, zu Ostern, am 14. Juli und zu Weihnachten, und üblicherweise veranstaltet jeder seine eigene Feier. Es wird nur verlangt, dass man die Feier in der Großkanzlei der Ehrenlegion registrieren lässt und dass jemand, der bereits Mitglied ist, die Laudatio spricht und das offizielle Kreuz am Band überreicht.
Ich fürchtete mich vor der Zeremonie, weil ich fand, dass ich die Auszeichnung nicht verdient hatte. Bei dem Gedanken daran und an alles andere in meinem Leben zitterte ich vor Angst. Immer öfter erlebte ich Anfälle schierer Panik. In der verzweifelten Hoffnung, ich könnte mit einem kurzen Rückfall über die Feiertage durchkommen, ohne dass das CPH mich ertappte und bevor Patrick am Tag darauf eintraf, zog ich am 30. Dezember los, kaufte eine Flasche Schnaps und begann zu trinken.
Ein paar Tage lang merkte das CPH nichts. Ich versäumte eine Gruppensitzung und rief deswegen betrunken jemanden an, entweder einen CPH-Mitarbeiter oder ein anderes Gruppenmitglied, und ich wurde gemeldet. Das war unvermeidlich. Schlimmer war der Ausdruck des Entsetzens auf Patricks Gesicht, als er an Silvester in der Tür stand und mich trinken sah. Er machte beinahe auf dem Absatz kehrt, als wäre ich ansteckend.
Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Er kämpfte gegen die Sucht um sein Leben, genau wie ich um meines kämpfte.
Ich kam nach Brattleboro Retreat am Rand einer Kleinstadt im hügeligen Teil von Vermont. Ein junger Freund aus Paris, Antoine, flog nach New York, lud mich in einen Leihwagen und fuhr mich die 300 Kilometer nach Norden.
Es ging mir schlecht.
In Vermont haben sie fünf Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Schlamm. Anfang April, als die Wege rund um die Stadt noch matschig von der Schneeschmelze waren, sagten die Mitarbeiter von Brattleboro Retreat zu mir: »Olivier, Sie machen das sehr gut, richtig großartig. Sie können nach Hause gehen. Sie schaffen es.«
Ich erwiderte: »Das höre ich immer wieder, und dann schaffe ich es doch nicht.«
Alle versicherten mir, diesmal werde es anders sein. Brattleboro liegt an der Bahnlinie von Vermont nach New York. Ich besorgte mir selbst eine Fahrkarte. Ein paar Stunden nach meiner Ankunft an der Penn Station trank ich wieder. Zehn Tage später brachte Antoine mich zurück. Die Mitarbeiter von Brattleboro begrüßten mich mit, wie ich fand, offensichtlicher Enttäuschung, sogar Ablehnung. Wir dachten, du wärst ein Gewinner, sagten ihre Blicke, aber du bist doch nur ein Loser.
Einer von ihnen schien mich mit anderen Augen zu betrachten. Alan Cohn war ein großer, zurückhaltender Mann mit einem Doktortitel in Psychologie, der Seminare über positive Bestätigung und kognitive Verhaltenstherapie leitete. Er brachte uns bei, dass wir uns nicht darum kümmern sollten, was
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