Das Ende meiner Sucht
andere Leute über uns dachten, und uns selbst zu akzeptieren, selbst wenn wir uns öffentlich zum Narren machten.
Alan riet uns zum Beispiel: »Zieht euch morgens zwei verschiedene Socken an. Wenn die Leute dann lachen, habt ihr gezielt dafür gesorgt, und ihr wisst, warum sie lachen.«
Die Idee dahinter war, dass wir sehen sollten, dass das Schlimmste, was passieren konnte, gar nicht so furchtbar war, und wir unser Leben nicht von Scham und Schuld regieren lassen sollten. Was uns ängstlich und deprimiert machte und uns zur Flasche greifen ließ, war in Alans Worten »Scheißdreck«. Alan definierte in denkwürdiger Weise vieles als »Scheißdreck«: »Toxische Scham ist Verlegenheit plusScheißdreck«, sagte er. »Schuld ist Gewissensbisse plus Scheißdreck. Verlegenheit und Gewissensbisse sind normale, gesunde Emotionen. Toxische Scham und Schuld sind kontraproduktiver Scheißdreck.«
Es waren einfache, geradlinige Weisheiten, und mir bedeutete jedes Wort viel. In New York, als ich zum ersten Mal kognitive Verhaltenstherapie kennengelernt hatte, hatte ich sie ziemlich nutzlos gefunden. Aber Alan machte sie für mich lebendig. Mit ihm war es auf einmal so einfach wie das Alphabet von A bis D. Alles drehte sich um die Korrektur »kognitiver Verzerrungen«, die man seit frühester Kindheit internalisiert hatte. Angesichts eines unerwünschten Gefühls oder einer unerwünschten Verhaltensweise gilt:
A
steht für das aktivierende Ereignis, das sie ausgelöst hat;
B
steht für die belastende Einstellung zu dem Ereignis oder einem selbst;
C
sind die C(K)onsequenzen aus den unerwünschten Gefühlen und Verhaltensweisen,
D
heißt, dagegen anzugehen, das Muster zu durchbrechen und wieder Stabilität zu erlangen.
Zur positiven Verstärkung sagte Alan uns: »Ihr müsst nicht daran glauben, dass positive Verstärkung funktioniert. Klinische Studien haben gezeigt, dass sie wirkt, wenn ihr sie oft genug anwendet. Ihr müsst nur die richtige Technik praktizieren. Ihr könnt euer neues System von Überzeugungen nicht in negativen Formulierungen ausdrücken wie ›Ich bin nicht dumm, ich bin nicht hässlich, ich bin nicht unliebenswürdig‹. Ihr müsst positive Formulierungen verwenden.
Wenn ihr etwas Negatives über euch denkt, etwa ›Ich bin dumm‹, schreibt das Gegenteil ›Ich bin klug‹ auf ein Stück Papier. Überlegt euch zwei oder drei negative Selbsteinschätzungen und schreibt das Gegenteil auf. Prägt euch die positiven Aussagen ein und sagt sie euch zehn oder fünfzehn Mal am Tag vor. Sprecht sie mit Überzeugung aus, selbst wenn ihr sie nicht glaubt. Wenn ihr das zehn oder fünfzehnTage hintereinander praktiziert, werden die positiven Einschätzungen wahr werden. Ihr werdet sie euch aneignen.«
Viele von uns nahmen Alan Cohns Ratschläge mit Skepsis auf. Ich dachte beim Zuhören: Genau das habe ich gesucht. Das brauche ich, um nicht mehr zu trinken. Endlich sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Ich las ein bisschen über kognitive Verhaltenstherapie und praktizierte beinahe obsessiv positive Verstärkung. Statt zehn oder fünfzehn Mal am Tag wiederholte ich die positiven Aussagen Dutzende Male. In Gedanken sagte ich sie mir dauernd vor. Wenn ich nicht an einem Programmpunkt teilnahm oder bei einem AA-Meeting war, lief ich stundenlang durch die Hügel rund um Brattleboro und saugte förmlich die Frühlingsboten auf: die Blüten, die überall aufbrachen, das Gezwitscher zahlloser Vögel, die länger werdenden Tage und die wärmenden Sonnenstrahlen. Ich folgte Alan Cohns Anweisungen und sagte mir wieder und wieder vor. »Ich bin ein guter Mensch. Ich bin charmant. Ich bin klug. Ich bin liebenswert.«
Die Nähe zur Natur beruhigte und besänftigte mich, genauso die Routine in der Entzugsklinik. Und genau wie Alan Cohn versprochen hatte, veränderte sich meine Einstellung zu mir langsam und wurde positiver. Aber ich hatte keine Vorstellung, wie ich ohne Behandlung meines Alkoholproblems in der normalen Welt funktionieren sollte. Vielleicht würde tatsächlich in Paris alles besser werden, wie meine Mutter beharrlich wiederholte. Ich begann die Rückkehr in meine Geburtsstadt zu planen.
Wenigstens würde der Umzug, den das CPH begeistert unterstützte, die ständige Überwachung und die Einschränkungen meiner Behandlung beenden. Es wäre eine Erleichterung, nach Frankreich zurückzukehren und wie ein normaler Patient behandelt zu werden.
5. DER ABSTURZ
In den 16 Jahren, die ich in den Vereinigten Staaten lebte,
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