Das Ende meiner Sucht
war ich ein stolzer Franzose geblieben. Aber New York war meine Heimat geworden, und der Gedanke, als Alkoholiker nach Paris zurückzukehren, fühlte sich wie ein Rückschritt an. Ich trauerte dem Leben nach, das ich mir privat und als Arzt aufgebaut hatte, und machte mir Sorgen über das, was vor mir lag.
Ich zog zu meiner Mutter, was kein Problem für mich war. Mit über siebzig führte sie noch ein aktives Leben, sie hatte Spaß, Kontakte und unternahm viel. Meine Freundinnen liebten sie allesamt; viele fragten meine Mutter noch um Rat, nachdem die Beziehung zu mir schon lange beendet war. Auch Evas Freunde wandten sich an unsere Mutter. Man konnte wunderbar mit ihr reden, über Banales genauso wie über wichtige Fragen, die schweren Zeiten hatten sie lebensklug gemacht. Ich freute mich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen und Schutz in ihrer wohlgeordneten Welt zu finden.
Doch es dräute eine dunkle Wolke am Horizont: Früher oder später würde die Angst oder das Verlangen nach Alkohol zur Besänftigung der Angst mich zwingen, vor ihren Augen zu trinken. Ich fürchtete mich davor, was das für uns beide bedeuten würde.
Wieder begleitete mich Antoine, als ich am Abend des 3. Juni 1999 in das Flugzeug stieg, das mich in sieben Stunden nach Paris bringen sollte. Beim Start verspürte ich eine Mischung aus Vorfreude und bösen Vorahnungen. Ich versuchte mich auf die positiven Dinge zu konzentrieren und hoffnungsvoll zu sein. Sicher hatte ich während meiner Krankheit die beste Hilfe von meinen Freunden erfahren, die mansich wünschen konnte. Das erfüllte mich mit Dankbarkeit (aber auch mit einem unbehaglichen Gefühl von Wertlosigkeit). Je mehr Zeit verstrich, desto mehr düstere Gefühle überlagerten die glücklichen. Meine Wadenmuskeln zuckten, die Spannung verkrampfte mir die Eingeweide, ich spürte Enge in der Brust, und die Befürchtungen, was meine Mutter wohl denken mochte, schürten das Verlangen nach Alkohol. Als die Stewardessen den Wagen mit den Getränken durch den Gang schoben, hatte ich einen unkontrollierbaren Durst nach Alkohol.
»Warum tust du das, wenn du deine Familie liebst?«, fragte mich meine Mutter, als ich einmal spät am Nachmittag mit einer Flasche in der Hand bei ihr ankam.
»Ich bin Alkoholiker. Ich trinke. Das machen Alkoholiker so. Ich verstoße nicht gegen Gesetze.«
»Du bist ein begabter Musiker, ein guter Arzt, ein wunderbarer Mensch«, erwiderte sie. Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und brachte eines ihrer Lieblingsthemen aufs Tapet. »Warum heiratest du nicht, gründest eine Familie und kümmerst dich um jemand anderen als nur um dich?«
»Ich werde damit nicht eine Frau und Kinder belasten. Es war für meine Freundinnen schon schlimm genug.«
»Wenn du eine Frau hast, die dich emotional unterstützt, wird alles anders. Und wenn du Kinder hast und die Verantwortung für sie trägst, wird dir das helfen, nicht zu trinken.«
»Du hast mich zu AA-Meetings in New York begleitet und die Horrorgeschichten gehört, wie Alkoholiker ihre Frauen und Kinder verloren haben. Wenn du das nicht mehr weißt, komm wieder mit zu einem Meeting, und du wirst das alles wieder hören.«
Meine Mutter schaute nach draußen auf eine U-förmige Terrasse, wo Jean-Claude, Eva und ich als Kinder herumgetollt waren. Ich goss mir einen Drink ein mit dem Gefühl, ein wertloser, abstoßender Mensch zu sein.
»Juden sind keine schickers «, murmelte sie und verwendete das jiddische Wort für Trinker.
»Ich habe einige bei den AA getroffen. Und wenn es um Kokain geht, können die Juden in New York City mit der South Bronx mithalten.«
Meine Mutter machte eine wegwerfende Handbewegung und stürmte aus dem Wohnzimmer. Ich war erst ein paar Wochen wieder zu Hause, aber unsere Gespräche nahmen immer den gleichen unerfreulichen Verlauf.
Mein Cousin Steve rief aus New York an, um zu hören, wie es mir zu Hause in Paris erging, und argumentierte wie meine Mutter. »Du hast alles, um glücklich zu sein, Olivier. Dein Vater ist Gott sei Dank gestorben, bevor du Alkoholiker wurdest. Aber schau, was du deiner Mutter antust. Sie hat Auschwitz überlebt, sie und dein Vater haben aus den Trümmern des Krieges ein wunderbares Leben für euch aufgebaut. Wenn du durch den Alkohol stirbst, wird Hitler das letzte Wort behalten. Deine Trinkerei quält sie.«
Von den AA und aus der Entzugsklinik wusste ich, dass alle Abhängigen solche Predigten von ihren Angehörigen und Freunden hören. Es ist
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