Das Ende meiner Sucht
Alkoholismus erzählt, nur um den nächsten Rückfall zu erleben. Es war noch zu früh, Baclofen zu erwähnen; ich musste erst mehr über das Mittel in Erfahrung bringen.
Zum Glück hatte ich kurz zuvor jemanden kennengelernt, der mich indirekt auf die Spur zu einigen Antworten lenkte: einen inParis lebenden Amerikaner namens Alexander. Er sah aus wie Marlon Brando in Der letzte Tango in Paris und war ehemaliger Journalist, der jetzt Englischkurse gab. Alexander und ich trafen uns jeden Nachmittag, wenn ich gerade nicht alkoholisiert war, zum Espresso in demselben Bistro und sprachen viel über Politik. Wir hatten sehr unterschiedliche Ansichten, ließen aber jeweils überzeugende Argumente gelten, und so entwickelte sich eine herzliche Beziehung. Lange Zeit erzählte ich ihm nicht, dass ich trank, aus Angst, er würde mich als Freund fallen lassen. Und wie die Figur, die Brando im Letzten Tango verkörpert, stellte Alexander niemals Fragen, wenn ich nach einem Rausch auftauchte. Gelegentlich drängte er mich, mit ihm und seiner Freundin zu Abend zu essen, und schließlich musste ich erklären, dass ich es wegen meiner Alkoholsucht vermied, neue Leute kennenzulernen und engere Kontakte zu knüpfen. Er verstand mich: Er hatte selbst gegen eine Drogensucht kämpfen müssen. Trotzdem wollte ich seine Freundin nicht kennenlernen und mich mit ihm nur nachmittags zum Kaffee treffen.
Bei unseren Unterhaltungen sprach Alexander oft von Dingen, die mit Internet und E-Mail zusammenhingen, und mir dämmerte, dass ich durch mein Trinken die große technologische und gesellschaftliche Revolution unserer Zeit verpasst hatte. In New York hatte ich ab und zu einen Computer benutzt, aber seit damals hatte sich viel verändert. Dank Suchmaschinen konnte man sich Informationen von überall auf der Welt beschaffen, Google existierte seit vier Jahren. Wenn ich etwas über Baclofen herausfinden wollte, dann musste ich im Internet suchen.
Anfang Februar 2002 kaufte ich einen PC und einen Drucker. Es dauerte eine Weile, bis der Computer lief und ich online war (ich bin technisch nicht sehr begabt), aber dann hatte ich Zugang zur Welt. Panik war mein schlimmstes Symptom, also gab ich als Suchbegriffe »Baclofen Panik« ein.
Der erste Treffer war ein Link zum Abstract eines 1989 in The American Journal of Psychiatry erschienenen Aufsatzes, Verfasser warenM. F. Breslow et al. von der University of Arizona. Der Aufsatz hatte den Titel »Role of gamma-aminobutyric acid in antipanic drug efficacy« (Die Rolle von Gamma-Aminobuttersäure bei der Wirksamkeit von Medikamenten gegen Panik; siehe Anhang), und in den wenigen Zeilen bei Google hieß es, Baclofen sei »signifikant wirksamer als Placebo« bei der Linderung von Panikattacken. Das verblüffte und elektrisierte mich.
Ich klickte auf den Link und las das Abstract:
Alle bei der Behandlung von Panikstörungen effektiven Wirkstoffe erhöhen die Transmission von Gamma-Aminobuttersäure (GABA) … Um die Hypothese zu testen, dass die GABA-Aktivität eine Komponente der Wirksamkeit von Medikamenten bei Panik ist, verabreichten die Verfasser neun nicht medikamentös behandelten Patienten mit Panikstörung oral Baclofen (30 mg pro Tag über vier Wochen) in einer doppelblinden, placebokontrollierten Crossover-Studie. Baclofen, ein spezifischer GABA-Agonist, war signifikant wirksamer als Placebo hinsichtlich der Reduktion der Zahl von Panikanfällen und der Werte auf der Hamilton-Angst-Skala …
Panik beeinflusst die GABA-Transmission im Gehirn, und Baclofen ist ein GABA-Agonist: Ich notierte mir den Satz, um der Sache später genauer nachzugehen. Für den Augenblick war ich gefesselt von der Aussage, dass 30 Milligramm Baclofen ausreichten, um das Gefühl von Angst und Panik merklich zu vermindern. Das war die Hälfte, sogar weniger als die Hälfte der Dosis, die Edward Coleman, der Patient in Professor Childress’ Versuch, täglich gegen seine Muskelspastiken eingenommen hatte.
Wenn Baclofen gegen Panik wirkte, warum hatte es mir keiner meiner Ärzte bisher verschrieben? Hatte es womöglich schwere Nebenwirkungen? Natürlich wusste ich als Kardiologe, dass die Ärzte in ihrer Verschreibungspraxis nicht alle potenziell infrage kommenden Medikamente berücksichtigen, sondern dass es von ihrer Ausbildung und von der Werbung der Pharmafirmen abhängt, was sieverschreiben. Ich sage das ganz werturteilsfrei. Es ist eine Tatsache der modernen medizinischen Berufsausübung, die durch zunehmende
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