Das Ende meiner Sucht
veröffentlichte. Weiter bemerkte er, in meinem Paper stehe nichts dazu, unter welcher Form von Angst ich litt, und schlug vor: »Vielleicht könnte [Dr.] Descombey die präzise Diagnose nennen.« Und schließlich: »Dr. S. wird mit Ihnen über den weiteren Verlauf Ihres Falles in Kontakt bleiben.«
Ich verstand nicht, warum es eine Rolle spielen sollte, unter welcher Form von Angst genau ich litt. Jonathan Chick und die beiden Suchtspezialisten, die meinen Fallbericht nachdrücklich zur Veröffentlichung empfohlen hatten, hatte das nicht gestört. Die E-Mail zeigte immerhin, dass der Chef von Dr. S.’ Abteilung mein Paper gelesen hatte. Aber es war enttäuschend und nach den üblichen Maßstäben merkwürdig, dass eine Gruppe von Ärzten es vorzog, einen Aufsatz aus einer medizinischen Zeitschrift zu diskutieren, ohne die Gelegenheit zu ergreifen, Fragen an den Autor stellen zu können, zumal der Arzt-Autor auch zugleich der Patient war und sein selbst entworfenes Behandlungsprotokoll erfolgreich an sich selbst ausprobiert hatte. Mein Blick blieb an dem Satz hängen: »Dr. S. wird mit Ihnen über den weiteren Verlauf Ihres Falles in Kontakt bleiben.« Das klang sehr danach, als würde der Chef der Abteilung mein Paper nicht ernst nehmen und mich nur als einen vorübergehend trockenen Alkoholiker ansehen.Es folgte ein ohrenbetäubendes Schweigen. Mit Ausnahme von Giovanni Addolorato und einigen wenigen Kollegen von ihm in Italien schien niemand innerhalb und außerhalb des Gebiets der Forschung und Behandlung von Suchterkrankungen auch nur das geringste Interesse an dem ersten unabhängig begutachteten Bericht über die vollständige Unterdrückung der tödlichen Krankheit Alkoholismus und Linderung der Komorbidität Angst zu haben. Ich machte mir langsam Sorgen, dass mein Fallbericht ignoriert werden könnte und dass er womöglich zu Recht ignoriert wurde, weil er tatsächlich unbedeutend war.
Im Februar traf mein Freund Georges Moroz, Psychiater und Psychopharmakologe, der an Medikamenten gegen Angststörungen forscht, aus seiner Heimat New Jersey zu einem Besuch in Paris ein. Normalerweise ist er sehr zurückhaltend, aber diesmal sagte er zu mir: »Dein Aufsatz ist explosiv!«
Ich erwiderte: »Für eine Explosion ist es ziemlich still geblieben.«
»Die Lunte brennt. Du musst sie nur den richtigen Leuten vor die Nase halten. Baclofen wirkt auf das GABA-System, also solltest du die Arbeit an George Koob schicken. Er ist Mister GABA. Ich wette, er wird fasziniert sein.«
Der Verhaltensphysiologe George Koob leitet den Ausschuss für die Neurobiologie von Suchterkrankungen am Scripps Research Institute im kalifornischen La Jolla. Koob und sein Kollege Michel Le Moal gehören zu den weltweit führenden Experten für die Belohnungsmechanismen des Gehirns, die bei Suchterkrankungen eine zentrale Rolle spielen. In einem Paper von Koob fand ich seine E-Mail-Adresse und schickte ihm eine Kopie meines Fallberichts mit der Bitte um eine Rückmeldung, wenn er etwas dazu sagen könne. Die Zeit verging, und ich hörte nichts von ihm.
Die gedruckte Ausgabe von Alcohol and Alcoholism mit meinem Fallbericht erschien im März. Professor Colin Martin, klinischer Psychologe an der Chinese University von Hongkong, schrieb mir eine lobende E-Mail, in der er mir zu meinen wichtigen Entdeckungengratulierte und zu dem Mut, meine Identität preiszugeben. Abgesehen von Giovanni Addolorato war er der Einzige in der Community von Ärzten und Forschern, der sich über einen Zeitraum von etwa einem Jahr nach der Veröffentlichung über Baclofen mit mir austauschte (und er zählt nach wie vor zu der Handvoll Ärzten und Forschern, die das bis heute tun). Ich wunderte mich, dass der erste Bericht in der medizinischen Literatur über die vollständige Suppression von Alkoholismus, einer tödlichen Krankheit, die vom medizinischen Establishment als chronisch und irreversibel definiert wird, so wenig Interesse geweckt hatte.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel überraschte mich am 11. April 2005 eine Überschrift in Business Week : »Ist Alkoholismus behandelbar?« In dem zugehörigen Artikel wurde über meinen Selbstversuch berichtet. Die Reporterin Catherine Arnst hatte zwar eine Reihe von Suchtexperten interviewt, aber keinen Kontakt zu mir aufgenommen und stattdessen ihre Informationen und Zitate ausschließlich aus meinem Fallbericht entnommen. Abgesehen von einigen kleinen Fehlern (die sie in der Online-Ausgabe korrigierte), stellte sie
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