Das Ende meiner Sucht
einmal nach Italien kommen sollte, würden sie ein Seminar zu meinem Fallbericht und meinem Behandlungskonzept veranstalten.
Ich brannte vor Hoffnung in diesen Tagen. Da stand ich, Verfasser des ersten unabhängig begutachteten Berichts über die vollständige Unterdrückung der Symptome von Alkoholismus – eines Berichts, der in einer der führenden medizinischen Fachzeitschriften zum Thema Alkoholismus veröffentlicht wurde. Aus Sorge, ich könnte mit Post von interessierten Ärzten und Forschern überschüttet werden, hatte ich mir ein Postfach gemietet und das als Kontaktadresse in meinem Fallbericht angegeben, zusammen mit meiner E-Mail-Adresse und Telefonnummer. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, sagte ich mir, bis große randomisierte Studien zur Wirksamkeit von Baclofen begonnen würden.
Ich fühlte mich, als hätte ich den Mount Everest bestiegen. Dabei war ich nur gerade erst im Basislager angekommen.
Es wurde Ende Januar, und ich ging zu meiner Verabredung mit Dr. S. Seit ich ihr gut einen Monat zuvor meinen Aufsatz geschickt hatte, hatte sie noch nicht die Zeit gefunden, ihn zu lesen, wie sie mir sagte, aber sie war erfreut über meine Veränderung und teilte mir mit, mein Fallbericht sei Thema in der Mitarbeiterbesprechung der Alkoholabteilung des Krankenhauses am nächsten Tag.
Ich schlug als nächsten Schritt eine Studie der dosisabhängigen Wirksamkeit von Baclofen bei anderen Alkoholikern vor. Sie erwiderte, ich solle mir um andere Alkoholiker keine Sorgen machen, sondern mich jetzt, da das Martyrium des Alkoholismus vorüber sei, auf mein eigenes Leben konzentrieren. Sie zweifelte, ob andere Alkoholiker überhaupt Baclofen würden probieren wollen, und warnte mich, wenn ich für Baclofen-Studien warb, würde das die Suchtmediziner nur befremden.
Ihre Reaktion verblüffte mich, um es gelinde auszudrücken. Rückblickend denke ich, dass sie wohl von ihrer Sorge um mich als ihren Patienten herrührte. Sie wusste besser als ich, wie festgefügt bestimmte Ansichten auf dem Gebiet waren und wie schwierig es sein würde, eine neue Sichtweise einzuführen. Und vielleicht traute sie auch meiner Genesung nicht ganz.
Bei der Verabschiedung wollte sie einen neuen Termin in einem Monat vereinbaren. Da ich seit einem Jahr vollkommen krankheitsfrei war, sah ich nicht ein, warum das nötig sein sollte.
Dr. S. schrieb dann mein Wiederholungsrezept für Baclofen neu aus. Sie reduzierte die Dosis von 180 Milligramm täglich auf maximal 75 Milligramm, weil die höhere Dosierung, die ich einnahm, normalerweise nur bei Muskelproblemen verordnet wurde – sie fühle sich nicht wohl, wenn sie das wegen einer Sucht verschreibe, erklärte sie.
In der geringeren Dosierung ließ sich die komplette Remission meines Alkoholismus nicht aufrechterhalten. Außerdem wirkte eine tägliche Dosis von 120 Milligramm Baclofen gut gegen meine chronische Angst. In der Medizin gibt es den sogenannten »Off-Label Use«, die Verordnung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb des genehmigten Gebrauchs (»zulassungsüberschreitende Anwendung«). Das ist gang und gäbe. Wenn ein Medikament für einen bestimmten Gebrauch zugelassen wurde, verschreiben es Ärzte durchaus auch bei anderen Krankheitsbildern. Über 23 Prozent aller Verschreibungen, in der Krebsbehandlung sogar 60 Prozent, sind solche Off-Label-Verordnungen. Die American Medical Association sagt, entscheidend bei einer Off-Label-Verordnung müsse »der Nutzen für den Patienten« sein. 1
Die Standardhöchstdosis für Baclofen ist in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten 80 Milligramm. Aber wie ich von John Schaefer erfahren hatte und wie auch in dem Paper von Smith et al. über Patienten, die bis zu 270 Milligramm täglich eingenommen hatten, stand, verschrieben Neurologen seit einigen Jahrzehnten höhereDosen off-label, ohne dass ihre Patienten unter anhaltenden Nebenwirkungen litten.
Ich beschloss, in dem Punkt bei Dr. S. nicht weiter zu insistieren.
Die Begegnung wühlte mich auf, aber ich sammelte mich wieder, und zu Hause mailte ich an den Chef der Abteilung von Dr. S., ich hätte von dem Plan gehört, bei der Mitarbeiterbesprechung am nächsten Tag meinen Fallbericht zu diskutieren. Ob er wolle, dass ich teilnehme, um über meine Erfahrungen zu berichten und Fragen zu beantworten? Er mailte umgehend zurück und lehnte dankend ab. Er fügte noch an: »Respekt für Jonathan Chick«, den Mitherausgeber von Alcohol and Alcoholism, dass er meinen Fallbericht
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