Das Ende
Wasseroberfläche.
Die Gesichter Tausender irakischer Männer, Frauen und Kinder schließen die Augen und sinken zufrieden hinab in die Fluten, in denen überall Leichen treiben.
Mit weit aufgerissenen Augen stand Patrick im Schlauchboot und schwang seine stählerne Armprothese durch die von dichtem Nebel erfüllte, doch ansonsten leere Nacht.
»Haltet ihn auf! Sonst schlitzt er noch das Boot auf!« Mit ausgestreckten Armen versuchte Francesca die Bootswand zu stabilisieren, während sie ihrem Mann zu handeln befahl.
Virgil packte Sheps rechte Hand und drückte sie. »Mein Sohn, es ist alles in Ordnung. Was immer es auch gewesen sein mag – es ist vorbei.«
Shep schüttelte die Vision ab. Verwirrt ließ er zu, dass Virgil ihn zu seiner Sitzbank führte. Der alte Mann wandte sich an Paolo. »Er ist wieder okay. Fahr weiter.«
»Nein. Das alles ist falsch. Wir stören das Allerheiligste. Wir hätten nicht hierherkommen sollen und …«
Francesca nahm die Hand ihres Mannes. »Sieh sie dir an, Paolo. Sie alle sind tot. Dein Sohn jedoch, der will auf die Welt kommen.«
»Mein Sohn …« Er führte das Ruder wieder ins Wasser und steuerte auf die Geräusche der lärmenden Menge zu.
Virgil legte Shep eine Hand auf die Schulter. »Was hast du gesehen? War es der Sensenmann?«
»Nein. Ich habe Menschen gesehen. Kriegsopfer. Sie kamen aus der Tiefe nach oben, aber …«
»Nur zu.«
»Aber ich war es nicht, der diese Menschen umgebracht hat. Und trotzdem fühlte ich mich gleichzeitig irgendwie für ihren Tod verantwortlich. Alles war mir auf eine so unheimliche Weise vertraut. Wie bei einem schlechten déjà vu .«
»Die Verantwortung für seine eigenen Handlungen zu übernehmen ist der erste notwendige Schritt, wenn man wieder mit dem Licht Verbindung aufnehmen will.«
»Du hörst mir nicht zu. Ich habe nicht mehrere Tausend Menschen umgebracht.«
»Vielleicht nicht in diesem Leben.«
»Virgil, ich hab’s dir schon mal gesagt: Ich glaube nicht an diesen ganzen Reinkarnationsschwachsinn.«
»Ob du daran glaubst oder nicht, kann an seiner Wahrheit nichts ändern. Unsere fünf Sinne stürzen uns in ein Chaos. Sie täuschen uns mit der Vorstellung, dass es keine Verbindungen zwischen den Dingen gäbe. Doch in Wahrheit ist alles mit allem verbunden. Ein déjà vu ist eine Inkarnation der Vergangenheit, die in der Gegenwart erlebt wird. Was auch immer du in einem deiner früheren Leben getan hast: Ich habe den Verdacht, dass dies deine letzte Chance ist, die Dinge in Ordnung zu bringen.«
» Was soll ich denn wieder in Ordnung bringen? Wie kann ich wissen, was ich tun soll?«
»Du wirst es wissen, wenn es so weit ist. Vertrau deinem Bauchgefühl, deinem Instinkt. Was sagt dir deine Intuition?«
»Meine Intuition?« Shep sah in Richtung Süden.
Während sie sich dem Rand des Reservoirs näherten, wurde der Nebel langsam dünner. Einen Kilometer entfernt war die Nacht von einem orangefarbenen Dunst erfüllt, der sich über Tausenden von Feuern erhob.
»Meine Intuition sagt mir, dass es nicht mehr lange dauert, bis alles noch sehr viel schlimmer wird.«
TEIL 4
DIE HÖLLENGRUBE
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SECHSTER HÖLLENKREIS
DIE KETZER
»Wir schritten nun dem offnen Tore zu, auf sichrer Bahn den heilgen Worten folgend, und kamen ohne Widerstand hinein. Ich hatte große Lust, die Einrichtung von solchem Bollwerk innen zu betrachten, und als ich dort war, schaut ich rings umher. Ein weites Feld zu recht und linker Hand sah ich bedeckt mit Schmerz und bösen Martern.«
DANTE, Die Göttliche Komödie,
»Hölle«, Neunter Gesang
21. DEZEMBER
Central Park, Manhattan, New York
4:11 Uhr
(3 Stunden und 52 Minuten vor dem prophezeiten Ende der Tage)
Als die kleine Gruppe das südöstliche Ende des Reservoirs erreichte, stand sie vor dem nächsten Hindernis, denn der Zaun, der die Joggingstrecke von der südlichen Begrenzungsmauer des Beckens trennte, bot keinen Ausgang und keine Schwachstelle. Paolo ruderte weiter, indem er dem Bogen der steinernen Grenze in Richtung Westen folgte. Francescas Licht zeigte ihnen schließlich eine Unterbrechung
in der langen Wand. Es war eine schmale Bootsrampe, die teilweise von einem mächtigen Tieflader versperrt war.
Paolo stieg zuerst aus dem Boot. Dann zog er dessen Bug auf die Betonrampe, bevor er seiner Frau half, an Land zu klettern.
Der rostige Aufleger des Lastwagens war in einem Winkel von dreißig Grad zum Reservoir geneigt und von gefrorenem Blut überzogen. Francesca wickelte sich
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