Das Erbe der Apothekerin - Roman
39
TODMÜDE KEHRTE MAGDALENA an einem drückendheißen Abend nach Hause zurück. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie es sich nicht nehmen lassen, zuvor in der Sankt-Stephans-Kirche wie üblich auf dem Altar der Seitenkapelle eine Rose zu Füßen der Mutter Gottes niederzulegen.
Gewohnheitsmäßig verrichtete sie vor der Statue der Madonna ihre Gebete für ihr verstorbenes Kind und für Gertrudes Sohn.
Man schrieb inzwischen die zweite Juliwoche des Jahres 1415, und seit dem Vormonat wechselten sich Tage voll glühender Hitze ab mit solchen, an denen sich schwere abendliche Gewitter mit heftigen Regenschauern entluden, die das Wasser teilweise knöchel- bis kniehoch in den Gassen stehen ließen.
Danach pflegte eine für die Jahreszeit viel zu kühle und
windige Witterung nachzufolgen, bis sich erneut über dem Kostritzer See – wie der Bodensee von den Anwohnern immer noch genannt wurde – schwüle Gewitterfronten aufbauten. Die riesige Wasserfläche lag da wie Blei, und des Morgens stiegen dichte Nebelschwaden auf, die bereits an den Herbst gemahnten. Auf die Gemüter der Menschen wirkte sich dieser Sommer in vielerlei Hinsicht nachteilig aus.
Viele fühlten sich schlapp und melancholisch, wohingegen andere von seltsamer Unrast und einer geradezu übersteigerten Lebenslust erfüllt waren. Weinschenken und Bordelle konnten sich über mangelnde Umsätze jedenfalls nicht beklagen. Aber auch Bader, Chirurgen und Apotheker hatten keine Verschnaufspause, wie Magdalena derzeit schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren musste.
Erschöpft ließ sie sich in der Küche neben Bertas Anrichte auf einen Hocker fallen.
»Während die Bader haufenweise gebrochene oder verrenkte Gliedmaßen zu schienen und einzurenken haben, müssen wir Pillendreher mit Salben, Wundpflastern und Schmerzmitteln gegen Hautabschürfungen und blaue Flecken zu Felde ziehen. Es ist nicht zu glauben, wie aggressiv und streitlustig manche werden, sobald sie ein Glas Wein oder Bier zu viel intus haben«, klagte Magdalena der Haushälterin ihr Leid.
Diese kniff die Augen zusammen und betrachtete die junge Frau im Schein der trüben Talglampe. Die voluminöse weiße Haube, die Magdalena trug, machte sie älter und ließ sie zugleich würdiger aussehen. Zusammen mit dem bodenlangen schwarzen Kleid mit dem in zahlreiche Falten gelegten Rock konnte man sie beinahe für eine Nonne halten
– ein Umstand, der ihr die Arbeit in der Klosterapotheke sicher erleichterte.
Hochgewachsen, schlank und von feinen Gesichtszügen, in denen große, wache Augen dominierten, bot sie den Anblick einer schönen jungen Dame aus adligem Geblüt. Sie hatte so gar nichts von der eher bodenständigen Lieblichkeit eines schwäbischen Bürgermädchens an sich. Was die Haushälterin nicht wissen konnte: Je älter Magdalena wurde, desto mehr ähnelte sie ihrer verstorbenen Großmutter Elise, einer geborenen von Schmalegg-Winterstetten.
»Kein Wunder, dass die Leute ihr den Namen ›Rose von Konstanz‹ verliehen haben«, dachte Berta. Er passte nicht nur deswegen zu ihr, weil sie jeden Tag in Sankt Stephan eine Rose niederlegte. Vor allem glich sie selbst dieser schönen Blume: Zart und zugleich widerstandsfähig wie eine Heckenrose, wunderschön und dennoch nicht eitel, sanft und freundlich, aber auch durchsetzungsfähig – und hin und wieder stachlig wie ihr dornenreiches Ebenbild.
»Aber was beklage ich mich?«, fragte Magdalena gleich darauf und lächelte die ältere Frau an. »Kann ich Euch vielleicht bei der Zubereitung des Abendbrots helfen?«
Berta lehnte dankend ab: »Nein, nein! Ruht Euch aus, meine Liebe! Ich bin sowieso gleich fertig.«
In diesem Augenblick platzte Julius in die Küche. Das kam so gut wie niemals vor. Dieser Raum war allein Bertas Reich, höchstens Magdalena und Betz hatten noch Zutritt; doch der Notar hielt sich normalerweise fern.
»Ah! Gut, dass ich dich hier finde, Lena! Komm mit mir, wir haben etwas überaus Wichtiges zu besprechen.«
Der sonst so ruhige und besonnene Vetter erschien der jungen Frau ungewöhnlich aufgeregt. Magdalena beschlich ein ungutes Gefühl. Was konnte jetzt schon wieder passiert
sein? War womöglich ihr Vormund Mauritz erneut in Konstanz aufgetaucht? Vielleicht versuchte er jetzt mit Gewalt, sie nach Ravensburg heimzuholen, um sie für immer unter seiner Kontrolle zu haben?
In seinem Schlafgemach angelangt, das ihm zugleich als Arbeitszimmer diente, wie zahlreiche mit Folianten und Papieren vollgestopfte Regale
Weitere Kostenlose Bücher