Das Erbe der Apothekerin - Roman
wilden Schrei musste er dabei ausstoßen, um überhaupt die Aufmerksamkeit der Leute zu erregen.
»Seht her, Ihr Tänzer!«, rief Magdalena laut. »Wenn euer Zucken und Drehen nicht aufhört, muss euch leider der Bruder Schmied hier mit diesem glühenden Eisen ein Kreuz auf den Schenkel drücken. Das wird euch dann – im Namen von Sankt Vitus – zuverlässig helfen!«
Es war unglaublich, wie schnell diese Ankündigung wirkte. Wie der Blitz hörte alles Hopsen und Taumeln auf. Alle – bis auf den tatsächlich Kranken – setzten sich mehr oder weniger erschöpft auf den Boden und behaupteten, urplötzlich durch die Gnade des heiligen Vitus »geheilt« zu sein von dem zwanghaften Wirbeln. Die schreckliche Angst davor, mit dem Brenneisen gebrandmarkt zu werden, hatte dieses »Wunder« bei denen bewirkt, die sich aus einer Massenhysterie heraus der Tobsucht hingegeben hatten. Den einzigen wahrhaft an der Tanzwut Leidenden unterzog der Prior einem Exorzismus, und seitdem war auch er ruhig geworden und ging wieder brav seiner Arbeit als Korbflechter in Castasegna nach.
Die Ordensbrüder waren Magdalena für ihr beherztes und kluges Eingreifen mehr als dankbar.
Und dann, an einem klaren, kühlen Herbstmorgen, war es endlich soweit: Der Prior wandte sich nach der Andacht an Bruder Johannes, die beiden anderen Mönche, die dem Konzil beiwohnen sollten, sowie an Magdalena und verkündete: »Ich denke, in ein, zwei Tagen könntet Ihr Euch gemeinsam mit Betz nach Konstanz auf den Weg machen. Gelobt sei der Herr!«
Segnend hob er die Hand über den Scheitel Magdalenas
und entfernte sich dann mit seinem Anhang in Richtung Refektorium.
»In Ewigkeit, hochwürdiger Vater«, flüsterte Magdalena hinter seinem Rücken. Am liebsten hätte sie laut aufgejauchzt. Sofort machte sie sich auf die Suche nach Betz. Längst war ein Schreiben seines Vaters im Kloster eingetroffen, das der jungen Frau erlaubte, ihn als Helfer und Apothekerlehrling bei sich zu behalten, solange sie seiner bedurfte.
Der Bursche würde außer sich sein vor Freude, wurden ihm doch die eintönigen Tage im Kloster allmählich etwas lang.
Einzig eine Sache fiel Magdalena schwer aufs Gemüt: Es hieß nun wohl endgültig Abschied zu nehmen von dem Fleckchen Erde auf dem kleinen Gottesacker, wo ihr viel zu früh geborener Sohn, ihr geliebter Vetter Rolf und sein treuer Knecht Utz ihre letzten Ruhestätten gefunden hatten.
Nie mehr würde sie sich neben den kleinen Grabhügel ins Gras setzen können, um ihrem Vetter – der ihr gewiss ein guter Ehemann und dem Kind ein ebenso guter Vater geworden wäre – alles zu erzählen, was ihr das Herz beschwerte. Sie nahm sich fest vor, auch fortan den so schmerzlich Vermissten jeden Tag eine frische Rose zu bringen. Wenn sie sie schon nicht mehr auf das Grab legen konnte, dann musste eben der Altar einer Kapelle oder Kirche als Ersatz dienen. Und in ihrem Herzen und in ihren Erinnerungen würden sie ohnehin immer bei ihr sein, ganz egal, wo ihre sterblichen Überreste nun lagen.
Magdalena beschloss, noch rasch zum Friedhof zu gehen, ehe sie Betz aufsuchte.
KAPITEL 24
IN DEN BERGEN war die Jahreszeit – immerhin brach bereits das letzte Drittel des Monats Oktober an – bereits winterlich. Auf dem Reschenpass und dem Arlberg lag eine zwanzig Zentimeter dicke Schneeschicht – sehr zum Missvergnügen von Papst Johannes. Er war Neapolitaner und hasste den Winter und die Kälte.
Dementsprechend war auch die Laune Seiner Heiligkeit. Aber Don Severino behielt seinen Gleichmut: »Ihr tut beinahe so, Heiliger Vater, als hätte es der heilige Petrus – nur um Euch zu ärgern – extra schneien lassen«, lächelte er.
»Wer weiß?«, knurrte der Papst. Er traute es dem alten Apostel durchaus zu … Verstimmt bestieg er den Tragsessel nach einer kurzen Rast am Christbergsattel in Vorarlberg, um sich von den beiden bärenstarken Knechten weitertransportieren zu lassen. Eine Kutsche zu benutzen, war leider nicht möglich. Zum Glück hatte vor einiger Zeit wenigstens der dichte Schneefall aufgehört.
Einer der zwei päpstlichen Lakaien passte nicht auf, er hatte wohl eine Unebenheit am Boden übersehen. Er stolperte, und sein Kamerad konnte die Last alleine nicht auffangen. So geschah es, dass die Sänfte samt Heiligem Vater umkippte: Papst Johannes lag mit dem Gesicht im Schneematsch. Seine Pelzmütze hatte er verloren.
»Ihr vermaledeiten Idioten!«, brüllte der so unsanft auf felsigem Untergrund Gelandete. Noch war die
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