Das Erbe der Apothekerin - Roman
aufbrächen. Als es dann losging, fühlte sie sich schlagartig besser als all die Wochen zuvor. Körperlich hatte sie sich längst erholt, während ihre inneren Wunden freilich noch eine ganze Weile länger brauchen würden, um zu verheilen. Doch die tägliche Bewegung in der frischen, klaren Herbstluft tat ihr wohl, und so mancher Wind, der, je näher sie den Bergen kamen, bereits den Geruch des Winters in sich trug, trieb ihr die Sorgen aus dem Kopf.
Zu Anfang kamen sie zügig voran. Die Route war längst nicht mehr so verstopft mit Wagenkolonnen und berittenen oder zu Fuß marschierenden Pilgern wie auf ihrer Hinreise. Als sie das Gebirge hinter sich ließen, waren die Wege wieder schneefrei, und sie waren guten Mutes, Konstanz bald zu erreichen.
Die Missgeschicke begannen bei Urnäsch. Einer der Fratres, Andreas, vertrat sich den Knöchel und konnte kaum noch auftreten. Umschläge mit essigsaurer Tonerde ließen die monströse und schmerzhafte Schwellung allerdings bald wieder abklingen.
Als Nächstes schaffte es Betz, sich kurz nach Gossau von einem
der zahlreichen Dorfköter beißen zu lassen. Die Wunde war zwar nicht sehr tief, aber dennoch nicht ungefährlich: Wusste man doch nicht, ob das Tier nicht vielleicht von der »Wut« befallen war, was den grässlichen Tod des Jungen bedeutet hätte. Frater Jakobus schlug den beißfreudigen Köter ohne weitere Umstände tot.
»Schaum hatte das Vieh zwar keines vor dem Maul, aber man weiß ja nie. Besser, wir gehen kein Risiko ein.«
Diese Meinung teilten alle, auch die junge Apothekerin. Alle wussten auch, was nun folgen würde. Sogar Betz – obwohl dem Jungen aus Furcht vor der ihn jetzt erwartenden schmerzhaften Prozedur fast die Sinne schwanden.
Dem Medicus Frater Johannes blieb nichts anderes übrig, als seine Mitbrüder zu bitten, Betz gewaltsam festzuhalten, während er mit einem glühenden Messer daranginge, die Wunde an seiner linken Wade auszubrennen und auszuschneiden.
»Um es dir leichter zu machen, trink diesen Mohnsaft«, empfahl Magdalena dem vor Angst schlotternden Burschen und hielt ihm einen Becher mit dem bitteren Gebräu an die Lippen. »Er wird dich weitgehend betäuben.«
Der Eingriff war immer noch barbarisch genug, und die Ordensbrüder hatten alle Hände voll damit zu tun, den wie rasend um sich Schlagenden ruhigzustellen. Es war jedoch die einzige Möglichkeit, um die »tolle Wut«, an der manche wilde Tiere litten, nicht in Betzens Körper gelangen zu lassen.
Dass sich Frater Johannes damit einer Gesetzesübertretung schuldig machte – Geistlichen und Mönchen war es eigentlich verboten, als Chirurgen tätig zu werden –, darüber verlor niemand ein Wort. Falls der Franziskaner sich geweigert hätte, wäre Magdalena an der Reihe gewesen, obwohl auch sie den Eingriff offiziell nicht hätte vornehmen dürfen,
da sie kein Wundarzt oder Barbier war. Aber hier stand womöglich das Leben eines jungen Burschen auf dem Spiel. Alle waren stillschweigend der Ansicht, der Herrgott würde diese »Gesetzesübertretung« schon verzeihen.
Dank der betäubenden Wirkung des Mohnsaftes und der geübten Handgriffe von Frater Johannes überstand Betz den Eingriff gut und humpelte die nächste Zeit mit einem dicken Verband ums Bein herum – was ihrer Reisegeschwindigkeit alles andere als zuträglich war.
Als wäre das noch nicht genug, wurde ihnen zwei Tage später aus dem Stall einer Herberge zwischen Sitterdorf und Erlen einer ihrer Packesel gestohlen. Als sie am Morgen aufbrechen wollten, schrie Bruder Andreas entsetzt auf: »Alle Heiligen! Mein Carlito ist weg!«
Es handelte sich dabei ausgerechnet um das Tier, das sie zum Transport ihrer Essensvorräte und der Ersatzkleidung ausgewählt hatten.
»Ein Glück, dass wir nicht mehr weit von Konstanz entfernt sind«, tröstete Magdalena die betrübten Fratres. Bruder Johannes eröffnete daraufhin seinen Mitreisenden, dass er noch etwas Geld besitze, das der Abt ihm vor Beginn des Abenteuers anvertraut habe – allerdings mit der Maßgabe, »dieses Geld nur im äußersten Notfalle zu verwenden«. Ansonsten sollten sie sich mit dem begnügen, was sie an Vorräten mitgenommen hatten.
Allfällige Übernachtungsgebühren beschlossen sie am besten dadurch einzusparen, indem sie den Wirten versprachen, für sie und ihre Familien zu beten.
Magdalena äußerte sich nicht dazu. Schließlich hatte sie als wohlbehütete Bürgerstochter niemals zuvor an irgendetwas Mangel gelitten. Dass sie gezwungen war,
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