Das Erbe der Apothekerin - Roman
unter freiem Himmel oder in zweifelhaften Herbergen zu übernachten, war
ebenso neu für sie wie die Erfahrung des Hungers, den sie gerade auf dieser Rückreise nach Deutschland zum ersten Mal in ihrem Leben kennenlernte. Die Vorräte der Brüder waren auch schon vor dem Verlust Carlitos bescheiden, und nicht selten verzichtete die junge Frau zugunsten des heranwachsenden Betz auf ihren Anteil an Brot, indem sie vorgab, bereits satt zu sein.
Noch ein weiteres – zum Glück allerletztes – Ungemach sollte die kleine Reisegesellschaft an einem Tag ereilen, der so windig war, dass die starken Böen zahlreiche Bäume im Nu entlaubten und bereits einen Vorgeschmack auf den Winter gaben.
Die ein Stück auf ihrem Esel vorausreitende Magdalena – mit ihrem bodenlangen Umhang mit Kapuze nicht als Frau erkenntlich – zügelte ihr Grautier Kasimir und wartete ungeduldig darauf, dass die anderen zu ihr aufschlossen. Aufgeregt deutete sie in der Allee, in der sie sich gerade befanden, ein Stück nach vorn.
»Da, seht doch! Das scheint mir Kampfgetümmel zu sein!« Deutlich war in dem Gewimmel einer Schar von Berittenen das Geklirr von Waffen zu hören.
»Sieht ganz so aus, ja! Herr im Himmel, auch das noch!«, murrte Frater Johannes. »Anscheinend geraten sich mal wieder die Eidgenössischen mit den Habsburgischen in die Haare! Trotz des Verbots aller kriegerischen Handlungen im weiten Umkreis der Konzilstadt!«
Die Gruppe beratschlagte, was zu tun sei. Sie beschlossen umzukehren und ein Stück zurückzureiten, um auf einem anderen Weg die Richtung nach Konstanz einzuschlagen. Keiner wollte jetzt, so kurz vor dem Ende ihrer Reise, noch ein unnötiges Risiko eingehen, am wenigsten Betz und
Magdalena. Schon einmal hatten sie sich schließlich fast am Ziel, am Comer See, gewähnt, und dann …
Magdalena schluckte gewaltsam die bittere Erinnerung und die Tränen, die in ihr aufstiegen, hinunter und wandte sich an die Männer: »Lasst uns den Weg über Birwinken und Langwil nach Kreuzlingen nehmen. Das ist gleichsam das Vorzimmer von Konstanz, das dürfte kaum ein Umweg sein.«
Die Fratres waren damit einverstanden und Betz sowieso. Keiner kannte sich so gut in der Gegend aus wie die junge Frau aus Oberschwaben.
Ohne zu wissen, dass auch Seine Heiligkeit diesen Weg in die Konzilstadt genommen hatte, trafen sie eine gute Woche nach Papst Johannes XXIII. in Konstanz ein.
KAPITEL 25
NEBLIG GRAU UND feuchtkalt brach der Morgen des 05. November 1414 an. Die Konstanzer hofften, dass sich im Laufe des Tages die Sonne doch noch Bahn bräche, denn heute sollte ein ganz besonderes Ereignis stattfinden: Die feierliche Eröffnung des Konzils im Münster der herausgeputzten Bodenseestadt stand an.
Was gab es da nicht alles zu bestaunen! Die »große Welt« war zu Gast in der Bischofsstadt – zumindest ein kleiner Teil davon. Noch waren längst nicht alle Teilnehmer eingetroffen, denn der Winter stand unmittelbar bevor, und vielen war das Reisen zu beschwerlich. Die Verhandlungen kamen daher auch noch nicht in Gang.
Jener Morgen war auch für Magdalena persönlich ein schicksalsträchtiger, denn mit zitternder Hand klopfte sie an die Tür ihres Verwandten Julius Zängle, kaum dass die Uhr acht geschlagen hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, denn sie wagte sich nicht auszumalen, wie jener Mann, den sie ja gar nicht kannte, ihr Ansinnen wohl aufnähme. Als sich im Türrahmen endlich Julius Zängle zeigte, der, obgleich bereits in vollem Ornat, dennoch leicht desorientiert und verschlafen wirkte, atmete Magdalena vor Erleichterung auf: Instinktiv erkannte sie, dass der Notar nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem gewalttätigen, verschlagenen Mauritz Scheitlin zu haben schien, im Gegenteil: Aus einem feinsinnigen Gesicht musterten sie warme, vertrauenerweckende Augen, auch wenn ihr Verwandter im Augenblick ein wenig verwirrt dreinschaute.
Nach dem ersten kurzen Erschrecken angesichts eines Franziskanermönches mit einer jungen Frau, die Zängle noch nie zuvor gesehen hatte, gewann er aber rasch seine Fassung wieder und verlor diese auch nicht, als er mit dem Ansinnen konfrontiert wurde, der Fremden für eine gewisse Zeit Obdach zu gewähren. Mit raschem Blick erkannte er, dass Magdalena Scheitlin eine durch und durch rechtschaffene Person war.
Der Versicherungen des Ordensbruders, der sich äußerst beredt für Magdalena einsetzte und sich überdies für ihre Ehrbarkeit, ihren Fleiß und ihr Geschick, Kranke zu behandeln
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