Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
neuen Hundes umtrieb? Hatte er diese Furcht vor Hunden schon immer gehabt? Waren hier gar Zusammenhänge zu den Geschehnissen im vergangenen Jahr denkbar? Welche Rolle spielte Hans dabei? Es war Johann nicht entgangen, dass der Nachbar Madlen auf eine Weise ansah, die nicht zu seiner väterlichen Freundlichkeit passte. Es war dasselbe versteckte Begehren, das auch in den Augen des armen Barthel gestanden hatte, der am vergangenen Sonntag wieder wie unabsichtlich ihren Weg gekreuzt und ihr lange nachgeschaut hatte.
»Was ist?«, fragte sie unsicher.
»Nichts«, log Johann. Er hätte gern mit ihr über alles gesprochen, doch er wusste, wie sehr es sie verstören und belasten würde, deshalb tat er es nicht. Der nächtliche Anschlag auf ihn hing ihr immer noch nach. Sie hatte mit keinem Wort widersprochen, als er tags darauf den neuen Hund geholt hatte, und als er sowohl am Tor zur Gasse als auch an der Hintertür jeweils einen zusätzlichen schweren Riegel angebracht hatte, war ihre Erleichterung unübersehbar gewesen.
Sie lächelte ihn fragend und ein wenig scheu an.
»Wollen wir rechnen, Johann?«
Alle Gedanken, die ihn vorhin noch beschäftigt hatten, traten in den Hintergrund. So erging es ihm immer, wenn sie lächelte. Er sah nur noch sie. Ihr von der Arbeit gerötetes Gesicht, den sich auflösenden Zopf, ihre von Erde verschmutzten Hände. Die dunkle Dreckspur auf ihrer Nase, die ihre Augen noch blauer leuchten ließ.
»Ja«, sagte er rau. »Lass uns rechnen.«
Beim Multiplizieren taten sich für Madlen neue Welten auf. Das kleine Einmaleins beherrschte sie ohnehin schon lange im Kopf, doch es sich selbst nun mit Zahlen versinnbildlichen zu können, verschaffte ihr höchstes Vergnügen, von der Anwendung auf größere Zahlen ganz zu schweigen. Aus ihrem Entzücken, dass sich nur mit Griffel und Tafel sogar vier- und fünfstellige Zahlen in Windeseile miteinander malnehmen ließen, machte sie keinen Hehl.
»Das ist doch sehr viel einfacher als mit den Fingern«, meinte sie begeistert.
Johann glaubte, sie habe einen Witz gemacht, doch sie musterte ihn etwas verwundert und erklärte, dass sie das Multiplizieren tatsächlich mit den Fingern gelernt habe.
Er wollte es nicht glauben, bis sie es ihm vormachte. Sie hielt ihm alle Finger ihrer kleinen, abgearbeiteten Hände hin und erklärte es ihm. Jeder Finger stand für eine Zahl, deren Höhe durch Abknicken noch variiert werden konnte. Durch Aneinanderhalten der Finger konnte die Summe ermittelt werden. Auf diese Weise konnte Madlen problemlos zweistellige Zahlen miteinander multiplizieren, sie war dabei sogar schneller als Johann, der es gleichzeitig auf der Tafel nachrechnete. Seit ihrer Kindheit war ihr das Fingerrechnen so geläufig, dass sie es im Kopf beherrschte, nur bei Zahlen über hundert benötigte sie das Rechentuch.
»Wo hast du diese Art des Rechnens gelernt?«, wollte er wissen.
»Ein polnischer Viehtreiber hat es meinem Vater beigebracht und der dann mir.« Madlen zog die Tafel heran und versuchte sich an einer neuen Multiplikation mit vierstelligen Zahlen. »Ich konnte es schneller als er, deshalb musste ich immer schon als Kind mit auf den Markt und mit den Fingern rechnen, während er mit den Händlern um den Preis für eine Fuhre Bier feilschte. Irgendwann brauchte ich die Finger dann nicht mehr, ich hab’s im Kopf ausgerechnet.« Konzentriert betrachtete sie das Ergebnis auf der Tafel. »Das sind über drei Millionen«, stellte sie erfreut fest.
»Wer hat dir gesagt, dass eine Zahl von dieser Höhe so heißt?«
»Veit«, meinte sie zerstreut. »Beim Baden.«
Sofort stellte er sie sich nackt im Badezuber vor, was seiner Gelassenheit alles andere als zuträglich war.
»Ich glaube nicht, dass ich dir beim Rechnen noch viel beibringen kann. Das Wichtigste konntest du vorher schon.«
Entrüstet blickte sie ihn an. »Das Teilen musst du mir auf jeden Fall noch zeigen! Und ich will auch das lernen, von dem du letzte Woche gesprochen hast. Geo… Geo…«
»Geometrie«, sagte er. Ob er sich überhaupt noch an alles erinnerte, was ihm der Hauslehrer eingebläut hatte? Es war schon viel zu lange her, und er hatte nie viel darum gegeben, ihn hatte das Ritterwesen weit mehr gelockt. Wen scherte es, wie die Fläche eines Dreiecks auszurechnen war, wenn man zum Tjosten reiten durfte.
Madlen hingegen saugte alles Wissen auf wie ein Schwamm, sie war kaum zu bremsen. Es bereitete ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten, die Ziffern mit der
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