Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Nabelschnur im Inneren des Körpers verschwand. Juliana zog leicht daran, und wenig später folgte an einem Stück die Nachgeburt. Sie wollte schon erleichtert aufatmen, als das Verhängnis seinen Lauf nahm. Es geschah immer wieder, viele Frauen waren davon betroffen, egal ob gesund oder krank, arm oder reich. Vor diesem Schicksal war keine Gebärende gefeit. Auch diese nicht. Das Blut kam in solchen Schwallen, dass schon nach wenigen Augenblicken klar war, womit es enden würde. Juliana nahm die Hand des Mädchens, um mit ihr und für sie zu beten, und während sie tonlos das Ave-Maria murmelte, starb die junge Frau, still und leise, ohne noch einmal die Augen zu öffnen. Auch das Kind regte sich nicht, es war schon tot auf die Welt gekommen. Dennoch taufte Juliana es, vielleicht bekäme es wenigstens gemeinsam mit der Mutter ein Armengrab am Rande des Kirchfelds statt nur eine Grube auf dem Schindanger. Sie legte dem Mädchen das Kind auf die Brust und kreuzte die Arme der Toten darüber. Anschließend schlug sie ihren Umhang über den beiden Leichnamen zusammen und knotete ihn zu. Die Totengräber würden ihn zweifellos an sich nehmen, sie machten alles zu Geld, doch bis zur Beerdigung sollten das Mädchen und ihr tot geborenes Kind unter dieser schützenden Hülle bleiben.
Glockengeläut erhob sich, in den umliegenden Pfarr- und Klosterkirchen endete gerade die Ostermesse. Sie und Hildegund hätten in der Kirche von Sankt Kolumba sein sollen, doch Krankheit und Tod kannten keine Unterscheidung nach Pfarrsprengeln. Wenn die frommen Frauen aus dem Beginenkonvent gerufen wurden, gingen sie dorthin, wo man sie brauchte, gleichgültig, wo in der Stadt ihre Hilfe nötig war.
Juliana betete ein letztes Vaterunser, dann erhob sie sich und klopfte sich den Schmutz von ihrem mit Blut und Fruchtwasser beschmierten Gewand. Ihr war übel, sie spürte einen leichten Schwindel. Nun, da alles vorbei war, drängten von allen Seiten die Bilder auf sie herein. Sie sah sich selbst dort liegend, gebärend und blutend und fast tot. Sie meinte, den Schmerz wieder zu fühlen, verlor sich an jene grauenhaften Tage, und sie bohrte sich die Nägel in die Handflächen, um ihren Körper wiederzufinden. Ihren heutigen Körper, dem niemand mehr etwas anhaben konnte.
Sie musste ihrem Geist verbieten, sich nach innen zu wenden, weg von den Menschen. Es geschah immer wieder, obwohl sie sich dagegen wehrte. So etwa, als Berni gekommen war, um in Madlens Auftrag die Salbe zu holen. Sie hatte sich verleugnen lassen und Meisterin Sybilla gebeten, ihm den Tiegel zu geben. Aber es half nichts, die Gedanken an jenen Mann kehrten regelmäßig zurück. Madlens Mann, der behauptet hatte, ihr Bruder zu sein. Sie versuchte, sich an sein narbiges Gesicht zu erinnern, doch es verschwamm vor ihrem inneren Auge zu einer weißen Fläche. Er war ein Fremder und würde es bleiben. Eines Tages würde er seiner Wege gehen, dann konnte sie die Freundin wieder besuchen. Madlen hatte ihr gesagt, er wolle nicht lange bleiben, nur bis zum Beginn des Sommers.
Der Sommer. Sie würde wieder Kräuter sammeln gehen, so wie früher.
Juliana erschrak, kaum dass dieser Gedanke ihr durch den Kopf gegangen war. Es war keine Erinnerung gewesen, nur eine flüchtige Regung, so, wie man überlegte, dass man sich waschen oder kämmen oder zur Beichte gehen sollte. Doch dieser Gedanke ans Kräutersammeln hatte in Verbindung mit früher gestanden, obwohl es kein Früher gab.
Hildegund kam aus dem Wohnhaus zurück, einen dampfenden Henkeltopf mit sich schleppend. Sie ließ einen zornigen Laut hören, als sie das eingewickelte Menschenbündel auf dem Stallboden liegen sah. »Da hätte ich mir die Mühe mit dem Wasser auch sparen können!«
Juliana bezähmte ihren Drang, Hildegund zu ohrfeigen, und mit grimmigem Sarkasmus sagte sie sich, dass ihr Benehmen bloß eine von Gott auferlegte Prüfung sein könne, denn nur so war zu erklären, dass immer wieder derartige Bemerkungen von ihr kamen. Vielleicht, so sinnierte sie, hatte Gott es aber auch in weiser Voraussicht so gefügt und den Sterbenden Hildegunds Anwesenheit ersparen wollen. Im Beisein Hildegunds das Zeitliche zu segnen konnte den Tod nur noch schlimmer machen, als er ohnehin schon war.
Sie wusch sich mit dem heißen Wasser die Hände, obwohl sie sich fast die Haut damit verbrühte. Anschließend ging sie mit Hildegund zu dem Fassbender, um ihm zu sagen, dass die Frau in seinem Stall tot war. Er fing sofort an zu zetern,
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