Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
mehr über ihre Kindheit. Die Beginen nahmen sie auf, und sie gab sich den Namen Juliana.« Mit verengten Augen musterte sie ihn. »Sie ist es, oder? Sie ist deine Schwester.«
»Warum hast du mir verschwiegen, dass du sie kennst?«, fragte er zurück. Er trat einen Schritt vor, und instinktiv wollte sie zurückweichen, doch er nahm ihr nur die beiden vollen Becher aus der Hand und erwiderte ihren Blick. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Leid und Sorge, Regungen, die sie bisher noch nie an ihm wahrgenommen hatte, obwohl ihm doch so übel mitgespielt worden war.
»Ich wusste nicht, was du für ein Mensch bist«, sagte sie einfach. »Woher wollte ich wissen, ob du wirklich ihr Bruder bist? Du hättest ihr Feind sein können. Einer von denen, die ihr das angetan haben.«
»Die ihr was angetan haben?«
»Furchtbare Dinge, an denen sie beinahe gestorben wäre.«
Der Becher in seiner Rechten zerbrach, das Bier floss über seine Hand, während die Holzstücke zu Boden fielen. Sein Gesicht war versteinert. »Was ist ihr widerfahren?«
»Johann, bitte«, sagte sie hilflos. Zum ersten Mal sprach sie ihn direkt mit Namen an, obwohl sie allein waren und niemand sie belauschte. Sie musste keinem was vorspielen, es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, und trotzdem hatte sie es getan. Es war unbewusst geschehen, sie hatte es gar nicht vorgehabt, und kaum, dass das Wort über ihre Lippen war, hätte sie es gern zurückgenommen, denn es erschien ihr von ungewohnter und unangebrachter Intimität. Seinen Namen zu sagen und ihm dabei ins Gesicht zu blicken schuf eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen, die Madlen durcheinanderbrachte. Sie wollte das nicht, es ging ihr zu weit.
»Bitte was ?«, fragte er ablehnend.
»Bitte quäl dich nicht damit. Und vor allem: Quäl sie nicht damit! Gut, sie mag deine Schwester sein, aber du hast selbst gesehen, dass sie sich nicht an dich erinnert. Sie hat dich nicht wiedererkannt, weder neulich, als sie dich gepflegt hat, noch heute, obwohl du wieder aussiehst wie du selbst. Sie weiß nicht, wer du bist. Auch ihren Namen kennt sie nicht. An jenem Tag, als du das erste Mal hier warst und mich nach ihr fragtest, habe ich sie gefragt, was ihr der Name Blithildis sagt. Es hat sie überhaupt nicht berührt, Johann.« Da, schon wieder hatte sie es getan. Madlen biss sich auf die Lippe, dann hob sie den Kopf und fuhr mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit fort: »Das alles ist sehr lange her. Ich möchte nicht, dass du versuchst, das Schreckliche wieder hervorzuzerren, denn das tut ihr weh und macht ihr Angst. Sie hat bei den Beginen ein gutes Leben und ist glücklich mit dem, was sie tut. Ihre Vergangenheit ist vorbei und vergessen. Keinem ist geholfen, wenn du darin herumwühlst.«
»Sie war dreizehn, als ich von ihr Abschied nahm«, sagte er. Seine Stimme war leise und klang tonlos. »Sie war ein fröhliches, immer zu Späßen aufgelegtes Mädchen. Sie lachte viel, und sie liebte die Musik. Sie spielte mit großer Freude die Leier und sang dazu. Ihre Stimme war wundervoll. Sie hatte eine Katze namens Nocturne. Wir alle liebten sie, sie war in unserer Familie die Sonne am Himmel.«
Madlen konnte kaum atmen, als er von seiner Schwester sprach. Etwas schien an ihrem Inneren zu zerren und hinauszuwollen, und erst, als sie die Nässe auf ihren Wangen spürte, erkannte sie, dass es Kummer war. Ein Teil davon war ihr eigener Schmerz, über das, was sie selbst verloren hatte. Liebe, Familie, Geborgenheit. Das Gefühl von Zusammengehörigkeit.
»Ich war damals fünfzehn und zog ins Heilige Land, zu einem Krieg, der mir so leuchtend und schön erschien wie das Kreuz des Erlösers, in dessen Namen wir aufbrachen. Blithildis winkte mir zu, als wir davonritten. Seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen. Bis vor einer Viertelstunde. Sie ist alles, was mir von früher geblieben ist. Doch ich bin ein Fremder für sie.«
Diese bitteren Worte wühlten Madlen noch mehr auf. Ohne nachzudenken, legte sie die Hand auf seine Brust, wobei sie selbst nicht wusste, ob sie ihm mit dieser Geste Trost spenden oder ihm einfach nur das Gefühl vermitteln wollte, dass er nicht allein war und dass jemand zu ihm hielt.
»Vielleicht …«, begann sie, stockte dann aber verzagt, weil sie nicht wusste, wie sie ihre Gedanken in Worte kleiden sollte. Sie wusste ja nicht einmal genau, was sie denken sollte. Vielleicht würde seine Schwester sich ja doch wieder erinnern, irgendwann. Vielleicht war es aber auch besser, gar
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