Das Erbe der Elfen
merklich lächeln. Er wird lächeln, obwohl er in letzter Zeit so selten lächelt.
Ciri blickte sich um, machte sich im Geiste Notizen. Zwei umgestürzte kleine Birken – kein Problem. Ein Haufen Äste – macht nichts, die Wagen kommen durch. Eine vom Regen ausgespülte Rinne – kaum ein Hindernis; die Räder des ersten Wagens werden sie zerfahren, und die anderen folgen in den Radspuren. Die große Lichtung ist ein guter Ort für ein Lager ...
Spuren? Wo sollen die denn herkommen. Hier ist niemand. Nur der Wald. Vögel, die zwischen frischen grünen Blättchen zwitschern. Ein rotbrauner Fuchs läuft ohne Eile über die Straße ... Und alles riecht nach Frühling.
Auf halber Höhe eines Hügels verschwand die Straße in einer Biegung, in einem sandigen Hohlweg, trat unter die krummen Kiefern, die von den Seiten herandrängten. Ciri verließ den Weg, ritt den Hang hinauf, um die Gegend von oben zu betrachten. Und vielleicht die nassen, duftenden Blätter zu berühren ...
Sie stieg ab, warf die Zügel über einen Aststumpf, ging langsam zwischen den Wacholderbüschen hindurch, mit denen die Anhöhe bewachsen war. Auf der anderen Seite des Hügels erblickte sie einen freien Raum, der im Dickicht des Waldes gähnte wie ein hineingebissenes Loch – sicherlich die Spur eines Brandes, der vor sehr langer Zeit hier gewütet hatte, denn nirgends war schwarz verkohltes Holz zu sehen, überall war es grün von jungen Birken und Tannen. So weit das Auge reichte, wirkte die Straße frei und befahrbar.
Und ungefährlich.
Wovor haben sie Angst?, dachte sie. Vor den Scioa’tael? Und was gibt es da zu fürchten? Ich fürchte mich nicht vor Elfen. Ich habe ihnen nichts getan.
Elfen. Eichhörnchen. Scioa’tael.
Bevor Geralt sie wegschickte, hatte Ciri die Leichen in dem Wachhaus betrachten können. Vor allem einer war ihr in Erinnerung geblieben – das Gesicht von Haaren verdeckt, die mit braun gewordenem Blut verklebt waren, der Hals unnatürlich verdreht und verbogen. Die in einer erstarrten, gespenstischen Grimasse hochgezogene Oberlippe ließ Zähne sehen, sehr weiß und sehr klein, nicht wie bei Menschen. Sie erinnerte sich an die Stiefel des Elfs, die abgetreten und abgeschabt waren, kniehoch, unten verschnürt, oben von zahlreichen geschmiedeten kleinen Haken zusammengehalten.
Elfen, die Menschen töten, selbst im Kampfe umkommen. Geralt sagt, dass man Neutralität wahren muss ... Und Yarpen, dass man sich so verhalten muss, dass man niemanden um Verzeihung zu bitten braucht ...
Sie trat gegen einen Maulwurfshügel, drehte gedankenversunken den Absatz im Sand.
Wer soll wem verzeihen, und was?
Die Eichhörnchen töten Menschen. Und Nilfgaard bezahlt sie dafür. Benutzt sie. Stachelt sie an. Nilfgaard.
Ciri hatte nicht vergessen, was in Cintra geschehen war, sosehr sie es auch wollte. Heimatlosigkeit, Verzweiflung, Angst, Hunger und Schmerz. Die Auszehrung und die Abstumpfung, die später gekommen waren, viel später, als Druiden aus dem Flussland sie gefunden und sich ihrer angenommen hatten. Sie erinnerte sich daran wie durch einen Nebel hindurch, doch sie wollte sich nicht mehr erinnern.
Doch es kam wieder. Es kam in den Gedanken wieder, in den Träumen. Cintra. Das Stampfen der Pferde und die wilden Schreie, die Leichen, das Feuer ... Und der schwarze Ritter mit dem gefiederten Helm ... Und später ... Die Hütten im Flussland ... Der rußige Kamin inmitten der Brandstätte ... Daneben, am heil gebliebenen Brunnen, ein schwarzer Kater, der sich eine schreckliche Brandwunde an der Seite leckte. Der Brunnen ... der Schwingbaum ... der Eimer ...
Der Eimer voll Blut.
Ciri rieb sich das Gesicht, betrachtete überrascht die Hand. Die Handfläche war nass. Das Mädchen schniefte, wischte mit dem Ärmel die Tränen fort.
Neutralität? Gleichgültigkeit? Am liebsten hätte sie geschrien. Ein Hexer, der gleichgültig zuschaut? Nein! Ein Hexer soll die Menschen schützen. Vor dem Waldschrat, dem Vampir, dem Werwolf. Und nicht nur davor. Er soll sie vor jeglichem Bösen beschützen. Ich aber habe im Flussland gesehen, was das Böse ist.
Ein Hexer soll schützen und retten. Männer beschützen, dass sie nicht an den Händen an Bäumen aufgehängt, nicht auf den Pfahl gesetzt werden. Hellhaarige Mädchen beschützen, dass man sie nicht zwischen in die Erde getriebenen Holzpflöcken kreuzigt. Kinder beschützen, dass sie nicht abgeschlachtet und in den Brunnen geworfen werden.
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