Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Leben war – aber was, wenn sie sich etwas vormachte, wenn es die Sehnsucht nach ihm war, die ihr etwas vorgaukelte? Was, wenn es stimmte, was Ortwin ihr vor die Füße geschleudert hatte?
Berchtas Stimme durchschnitt ihr Brüten. »‘s hot koine Butterbloama meh«, stellte die Magd fest, die den Deckel eines bauchigen Tongefäßes in der Hand hielt, in dem die Blumen aufbewahrt wurden. Die kleinen, gelben Blütenblätter dieser Pflanze wurden ebenso wie die Blüten der Ringelblume zur Einfärbung der Butter verwendet, damit diese appetitlicher aussah.
»Ich gehe schon«, bot Brigitta an, der ohnehin zu eng wurde in dem winzigen Raum, und schob das Butterfass zurück. »Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen«, stellte sie fest, und tatsächlich riss der bleierne Himmel gerade auf, als sie ins Freie trat.
Wie jedes Mal nach einem der heftigen Güsse wirkten die Landschaft und der Hof blitzblank gescheuert, doch es würde nicht lange dauern, bis die Hitze wieder ein flimmerndes Tuch über Wiesen und Felder legte. In dicken Schwaden stieg die Feuchtigkeit aus den Baumwipfeln auf, und als Brigitta den Hang zur Quelle des Hungerbrunnens hinabstieg, begann die Sonne bereits wieder unbarmherzig zu stechen. Durch hüfthohes Gras kämpfte sie sich bis in das Tal, das von dem Bächlein durchschnitten wurde, und ging in die Knie, um die vereinzelt wachsenden Pflanzen in einem Tuch zu sammeln. Immer wieder schweifte ihr Blick dabei die Talsohle entlang, da dies der Weg war, den die Marktkarren nahmen, um in die Reichsstadt zu gelangen. Wer wusste, vielleicht hatte sie Glück und konnte die Knechte abpassen, wenn sie aus Ulm zurückkehrten! Erneut schnürte sich ihre Kehle zusammen. Hoffentlich brachten sie gute Nachrichten! Geistesabwesend vertrieb sie eine lästige Fliege, die sich immer wieder auf ihrem verschwitzten Gesicht niederlassen wollte. Täuschte sie sich, oder war es seit dem Regen noch heißer und schwüler geworden als am Morgen? Sie fasste sich schwindelig an den Kopf, als sie aus der Hocke auf die Beine kam und kleine, silberne Sterne vor ihren Augen tanzten. Vielleicht hätte sie etwas essen sollen, dachte sie reumütig, doch seit dem Aufbruch der Marktgänger litt sie unter einer Appetitlosigkeit, die selbst die härteste Arbeit nicht zu vertreiben vermochte.
Lange Zeit watete sie durch die halb überschwemmte Wiese, riss Blume um Blume aus und betete. Um Wulfs Leben; dass er sie suchen und finden würde; um das Leben ihrer Mutter und der im Haus eingeschlossenen Mägde und Knechte und die Seele ihres kleinen Bruders; und dafür, dass Gott Ortwin für all seine Missetaten bestrafen und ihr selbst ihre Sünden vergeben würde. Würde all seine Barmherzigkeit genügen, um ihr zu verzeihen, dass sie das vierte Gebot gebrochen und sich gegen ihre Eltern gewandt hatte? Sie schluckte die in ihr aufsteigende Furcht und zwang sich zur Zuversicht. Unsicher stakste sie weiter und stopfte alles Gelbe in ihr Bündel. Während sich ihre Röcke immer mehr mit Wasser vollsogen, wurde ihr von Minute zu Minute heißer, da selbst das Kopftuch sie nicht mehr vor der brütenden Sonne schützen konnte. Ein bohrender Kopfschmerz zog sich von ihren Augen über die Stirn bis in den Hinterkopf, und zu dem immer häufiger auftretenden Schwindel gesellte sich schließlich heftige Übelkeit. Sie hatte sich gerade mit einem Stöhnen auf einem Stein niedergelassen, um sich ein wenig auszuruhen, als am Horizont die verschwommene Form eines Wagens auftauchte. Die Knechte waren zurück!
Ohne auf den hämmernden Protest in ihren Schläfen zu achten, ließ sie das Tuch mit den Blumen fallen, raffte die schweren Röcke und eilte dem Fuhrwerk entgegen. Mit jedem schmatzenden Schritt, den sie tat, sank sie in den aufgeweichten Boden ein, sodass ihr schon bald die Schienbeine schmerzten. Während der aus allen Poren tretende Schweiß dafür sorgte, dass ihr das Kleid am Rücken klebte, fuchtelte sie wild mit den Armen in der Luft, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken. Doch je schneller sie rannte, desto weiter schien sich der Ochsenkarren zu entfernen. Sie wollte gerade den Mund öffnen, um zu rufen, als ihr ein sich plötzlich über sie senkender schwarzer Schleier die Sicht vernebelte. Verzweifelt rudernd rang sie um ihr Gleichgewicht, während sowohl Farben als auch Geräusche aus ihrem Bewusstsein gewischt wurden. Als sie auf dem an dieser Stelle harten und steinigen Boden aufprallte, spürte sie einen unwirklichen,
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