Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Sein Blick wanderte zu dem Riss, den er betrachtet hatte, als Ortwin eingetroffen war. »Sieh dieses Problem zum Beispiel.« Er runzelte die Stirn und legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Unsere Aufgabe in Mailand wird sein, zu klären, ob die Höhe des Mittelschiffs falsch berechnet wurde und ob es nicht sinnvoller wäre, den Aufriss in der Höhe zu verändern. Außerdem«, fuhr er fort, »soll nachgeprüft werden, ob die Mittelstützen oberhalb der großen Pfeiler vor der Mauer elf oder vierzehn Ellen hoch sein sollen.«
Als er den Ausdruck auf Ortwins Miene sah, lachte er erneut. »Wenn du denkst, das sei das ganze Problem, dann warte, bis du einen Plan in die Tat umsetzen willst. Denn dann beginnt der Kampf mit den Handwerkern.« Er zeigte mit dem Kinn auf die Baustelle. »Von der Vermessung zur Grundsteinlegung ist es ein weiter Weg.« Er deutete auf einige Seile in der Ecke des Raumes. »Keines dieser Seile taugt dazu, einen Kreis von mehr als fünfundzwanzig Metern Durchmesser zu ziehen. Daher ist es besser, die Vermessung mittels Dreieckskonstruktionen vorzunehmen.« Er setzte den Griffel wieder an, um diese Aussage zu erläutern. »Man misst also eine Grundstrecke, schlägt von beiden Enden mit der Schnur einen Kreisbogen und bildet mithilfe der Kreisschnittpunkte ein gleichschenkliges Dreieck. Das Lot, das sich ergibt, indem man den Schnittpunkt mit der Grundstrecke verbindet, ergibt einen rechten Winkel.« Die Figur erklärte, was er meinte. »Das wiederholt man nach allen Seiten und erhält somit Reihen von Messpflöcken, die – mit Seilen verbunden – die Lage der Mauern ergeben.«
Ortwin blinzelte, da die Linien begannen, vor seinen Augen zu tanzen. Wie sollte er all das in wenigen Wochen lernen?, fragte er sich verzweifelt, da ihm in diesem Moment klar wurde, dass er Ulrichs Erwartungen niemals würde entsprechen können. Zwar war er ein talentierter Bildhauer und Steinmetz, aber diese komplizierten, geometrischen Überlegungen, die der Werkmeister so mühelos anzustellen schien, überstiegen seinen Horizont.
Er unterdrückte ein Stöhnen, als Ulrich Luft holte, um fortzufahren. »Halte dir stets vor Augen, dass ein Sakralbau ein Abbild des Kosmos ist.« Seine Augen glänzten, als er hinzufügte: »Die Mauer hat im Fundament Jesus Christus, unseren Herrn, und ein jeder Heiliger, der von Gott für ein ewiges Leben bestimmt ist, ist ein Stein dieser Mauer.« So ging es immer weiter, da der Baumeister sich in seine Begeisterung hineinsteigerte, und da Ortwin nach einer Weile seine Ohren auf Durchzug schaltete, verpasste er um ein Haar das Ende der Rede.
»Ich schlage vor, du verdaust das Gehörte erst einmal und beginnst damit«, er reichte Ortwin einen Griffel, »mir eine Ritzzeichnung des Ulmer Münsters zu machen, in der du den gesamten Bau in geometrische Formen aufgliederst und miteinander in Beziehung setzt.« Er schmunzelte, als Ortwin ihn verdattert anstarrte. »Es reicht, wenn du einen Aufriss anfertigst. Wir wollen es schließlich nicht gleich am ersten Tag übertreiben.« Damit ließ er seinen zukünftigen Schwiegersohn stehen und schlenderte davon.
Einige Augenblicke sah Ortwin ihm entgeistert hinterher, doch als Ulrich keinerlei Anstalten machte, zurückzukehren und das Ganze als Witz zu entlarven, fasste er sich an den brummenden Schädel. So ein Mist!, dachte er verzweifelt und blickte hilflos zwischen dem spitzen Schreibinstrument in seiner Hand und dem winzigen freien Fleck auf der Gipsfläche hin und her. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Die vermaledeite Kirche stand doch noch nicht einmal zur Hälfte, wie sollte er sich da vorstellen können, wie sie aussehen sollte, wenn sie fertig war?!
Erst als der weiße Untergrund vor seinen Augen zu verschwimmen begann, fasste er sich ein Herz und setzte den Griffel an. Die erste Linie, mit der er die Form des Langhauses nachziehen wollte, misslang jedoch komplett, sodass er sie leise schimpfend korrigierte. Das konnte ja heiter werden! Als ob er nicht schon genug Sorgen mit dem Geldverleiher hätte! Er sog zischend die Luft durch die Zähne, als es ihm mit viel Zittern endlich gelang, den an das Hauptschiff angrenzenden Strebebögen den richtigen Schwung zu verleihen. Stolz darüber, die erste Hürde überwunden zu haben, betrachtete er sein Werk einige Zeit lang und ließ die Gedanken abschweifen. Wenig amüsiert darüber, dass ihm der säumige Apotheker durch die Lappen gegangen war, hatte der Geldverleiher Ortwin mit eindeutigen
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