Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Worten gewarnt, was geschehen würde, wenn dieser es nicht schaffte, die geschuldete Summe nach Ablauf der Frist herbeizuschaffen. Ein kalter Schauer ließ ihn frösteln. Alles hing davon ab, ob in Ulrich von Ensingens Haus überhaupt noch jemand am Leben war. Wenn nicht … Er ließ die Überlegung unbeendet und bemühte sich, die Chortürme in das richtige Verhältnis zum Rest seiner Zeichnung zu bringen, während er trotzig den Unterkiefer vorschob. Sein Traum würde in Erfüllung gehen!, dachte er hitzig. Er war schon viel zu weit gegangen, als dass er sich jetzt noch Steine in den Weg werfen lassen würde.
Kapitel 37
Altheim, 20. Juli 1368
Das laute Heulen des Windes, gefolgt vom dumpfen Geräusch aufeinanderschlagenden Holzes ließ Brigitta aus dem Schlaf auffahren. Orientierungslos blinzelnd schlug sie die Lider auf und erschrak bis ins Mark, als auch das die tintige Schwärze um sie herum nicht zu vertreiben vermochte. Während ihre Augen Helligkeit suchend hin und her zuckten, versuchte sie, sich auf die Ellenbogen zu stemmen, ließ sich jedoch ermattet zurück in die Kissen fallen, als sie ein heftiges Schwindelgefühl übermannte. Wo war sie? Und warum fühlten sich ihre Finger und Zehen an, als wäre sie in einen Ameisenhaufen gefallen? Schwer atmend lauschte sie auf die langsam das Tosen in ihren Ohren übertönenden Geräusche. Es schien, als ob sie mitten in der Nacht das Bewusstsein wieder erlangt hatte – eine Vermutung, welche durch die Wärme eines Körpers an ihrer Seite untermauert wurde. Vorsichtig tastend fand ihre Hand die wohlbekannte Form ihrer Bettgenossin, die mit einem leisen Grunzen die Beine anzog. Allmählich verstärkte sich ein gedämpftes Prasseln, das verriet, dass draußen ein heftiger Regenguss niederging. Was war mit ihr geschehen? Die lähmenden Kopfschmerzen, an die sie sich dumpf erinnern konnte, waren verschwunden, ebenso wie die Übelkeit, die ihr immer wieder die Gallensäfte in die Kehle getrieben hatte. Stattdessen quälte sie nagender Hunger, und während sie Zoll für Zoll überprüfte, was ihr sonst noch wehtat, kehrte allmählich die Erinnerung zurück. Der Ochsenkarren! Sie hatte in der Nähe des Hungerbrunnens nach Butterblumen gesucht, als sie die Männer aus Ulm hatte zurückkehren sehen. Und dann war sie ihnen entgegengelaufen.
Sie legte die Stirn in Falten, doch egal, wie sehr sie ihr Gehirn durchforschte, das war das Letzte, an das sie sich entsinnen konnte. Haltsuchend bohrte sie den Blick in die lang gezogenen Schatten an der gegenüberliegenden Wand, die in diesem Moment von mehreren aufeinanderfolgenden Blitzen erleuchtet wurde. Die daraufhin zurückkehrende Finsternis war in ihrer Undurchdringlichkeit beinahe noch furchterregender als die Dunkelheit, in der sie erwacht war.
Während sie versuchte, eine lähmende Panik zu unterdrücken, begannen wirre Bilder vor ihren überanstrengten Augen zu tanzen – beinahe als ob sie sie narren und ihr vorgaukeln wollten, dass sie noch träumte. Nacheinander zogen immer und immer wieder die von der Pest grauenhaft entstellten Gesichter ihrer Mutter und ihres kleinen Bruders an ihr vorbei, nur um unerwartet von Wulfs erschreckend abgemagerter Gestalt abgelöst zu werden. Ein Schrei stieg in ihr auf, den sie nur mit äußerster Mühe zu einem gepressten Wimmern erstickte. Sie waren alle tot! Tot und in ungeweihter Erde verscharrt, aus deren Tiefe ihre gequälten Seelen jetzt Hilfe bei den Lebenden suchten! Eisige Kälte senkte sich über sie, und sie zog zitternd die dünne Wolldecke bis an die Nasenspitze. Leise stöhnend presste sie die brennenden Lider aufeinander, um die schrecklichen Trugbilder zu verscheuchen. Doch anstatt sich aufzulösen, nahmen sie an Deutlichkeit zu. Träumte sie doch noch?, fragte sie sich verstört, als sich ein dröhnend lachender Ortwin zu ihrem Geliebten gesellte, um diesem eine Schlinge um den Hals zu legen. Als sich daraufhin der Boden unter Wulfs Füßen auftat, um ihn zu verschlingen, entfuhr ihr ein heiserer Ausruf.
»Schlof«, murmelte Berchta an ihrer Seite und rollte sich zu einem Ball zusammen, was zur Folge hatte, dass Brigitta nur noch einen kleinen Zipfel der Decke für sich hatte. Frierend, mit der kalten Hand des Schreckens im Nacken, kuschelte sie sich an den Rücken ihrer Bettgenossin und schickte ein Gebet zum Himmel. Herr, flehte sie tonlos, Barmherziger, vergib mir meine Schuld und bewahre Wulf vor allem Bösen. Lass ihn am Leben sein und nach mir suchen.
Weitere Kostenlose Bücher