Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Zeichen schickt?«, hatte er mehr als einmal großspurig posaunt; doch da Ulrich sich nicht um dieses Großmaul zu scheren schien, würde auch Ortwin ihn und seinen unfähigen Schwager zu ignorieren wissen.
Als endlich der bereits mit Dutzenden von Handwerkern und Arbeitern bevölkerte Münsterplatz vor ihm auftauchte, verdrängte die Aufregung jedoch mit einem Schlag alle Gedanken an Krankheit und Tod. Schließlich hatte Ulrich versprochen, ihn in den nächsten Tagen und Wochen in die Geheimnisse der Bauplanung einzuführen, damit er ihm als Parlier in Mailand keine Schande machen würde. Schnurstracks begab er sich zu dem hölzernen Reißboden in der Nähe des Chores, wo der Werkmeister bereits mit Zirkel und Messlatte bei der Arbeit war. Allerdings schien die Zeichnung vor ihm, die er kritisch betrachtete, nichts mit dem Ulmer Münster zu tun zu haben, da der markante, hoch aufragende Westturm fehlte.
»Was denkst du, Ortwin?«, fragte er und wies auf das aus geometrischen Figuren zusammengesetzte Bild. »Sollte die Kirche selbst – den zu bauenden Vierungsturm im Maß nicht mit einbezogen – bis zum Quadrat oder bis zum Dreieck aufragen?«
Ortwin fiel die Kinnlade herunter. Verständnislos blickte er auf das Gewirr aus Linien, Halbkreisen, Dreiecken und Quadraten, die miteinander verbunden ein unglaubliches Durcheinander auf dem Reißboden erzeugten. Was zum Teufel sollte diese Frage bedeuten? Und wie um alles in der Welt sollte irgendjemand aus diesem Wirrwarr schlau werden?!
»Ähm«, hub er an und biss sich verlegen auf die Unterlippe, doch bevor die Situation allzu peinlich werden konnte, klopfte Ulrich ihm lachend auf die Schulter.
»Siehst du, das sind die Dinge, mit denen du dich in Zukunft auseinandersetzen wirst«, verkündete der Baumeister trocken und malte die groben Umrisse einer einfachen Kreuzbasilika auf den Boden. »Hier«, sagte er und zeigte mit der Messlatte auf die Vierung, die sich dadurch ergab, dass sich vor der Altartribüne das Quer- und das Langschiff kreuzten. »Wenn du solch einen rundbogigen Bau errichten willst, musst du darauf achten, dass dein Grundelement das Quadrat ist.« Er ritzte ein zweites Bild daneben. »Wohingegen du – wenn du Spitzbögen und Höhe erreichen willst – das Rechteck wählen musst.«
Ortwin nickte, da er diesen Teil ohne Schwierigkeiten begriff. Baute man eine Wölbung über einem Quadrat, führte dies zu Rundbögen und plumpen, massiven Wänden, wohingegen das Rechteck durchbrochene Mauern, große Fensterflächen und schlanke Spitzbögen erlaubte, die durch filigranes Strebewerk gestützt wurden.
Da auf dem Boden nicht mehr viel Platz war, wandte Ulrich von Ensingen sich einer der verputzten Wandflächen zu, die ebenfalls als Zeichenunterlage dienten. »Bei der Planung einer Kirche musst du auf vielerlei Dinge achten.« Er zeichnete eine stilisierte Kathedrale, bevor er fortfuhr. »Wie sollen die Wände gegliedert sein? Zwei-, drei-, vier- oder gar sechszonig?« Er fügte einige Bögen hinzu. »Benötigt der Bau ein Rippen-, Stern- oder Kreuzgewölbe? Und wie sollen Maßwerk, Portale und Fensterrosen aufeinander abgestimmt sein?« Ortwin versuchte, der immer schneller in den Gips ritzenden Hand zu folgen. »Welchen Durchmesser müssen die Pfeiler haben, wie hoch sollen die Schiffe werden?« Eine Turmspitze erschien in dem weichen Untergrund. »Und wie hoch darf dein Turm werden? Oder sollen es gar Zwillingstürme sein?« Immer flinker flogen die Finger über den Untergrund. »Und das hältst du dann alles, Strich für Strich, in deinem Musterbuch fest, bevor du ein Holzmodell des Baus anfertigst. «
Ortwin schwirrte der Kopf und er war froh, als Ulrich endlich den Griffel sinken ließ. »Das ist aber noch lange nicht alles«, belehrte der Baumeister ihn munter weiter. »Die erste Regel ist: Standfestigkeit kommt stets und immer vor Schönheit.« Er grinste. »Auch wenn es manchmal nicht den Anschein hat.« Dann wurde er wieder ernst. »Du musst so viel von den Alten lernen, wie du kannst. Das Exemplum , die Nachahmung alter und bewährter Vorbilder, ist deine oberste Pflicht.«
Ortwin nickte schwindelig. Widersprach das nicht allem, was Ulrich von Ensingen bisher auf der Baustelle erreicht hatte? Als habe er seine Gedanken gelesen, setzte Ulrich hinzu: »Erst, wenn du die Prinzipien begriffen und verinnerlicht hast, wenn du deine Geometrie im Schlaf beherrschst«, er hob den Zeigefinger, »erst dann darfst du neue Wege gehen. Nicht vorher!«
Weitere Kostenlose Bücher