Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
lassen. Und so war es gekommen, dass Ortwin sich in dem einzigen Gasthaus des Dorfes eingemietet und an der List gefeilt hatte, mit der er Brigitta von dem umzäunten Gehöft fortlocken würde.
Wenn seine Idee funktionierte, würde die von ihm in Schrecken versetzte Clementine nach ihrer Schwester schicken, um die Nachricht vom drohenden Tod ihrer Mutter mit dieser zu teilen. Dann, wenn die Kleine aufgelöst und voller Panik gelaufen kam, um die Neuigkeiten aus erster Hand zu erfahren, würde er sie ohne viel Federlesen ergreifen, auf den Rücken der Stute ziehen und mit ihr über die Felder davonjagen. Bis die Bauern sich so weit gefasst hatten, dass sie ihn verfolgen konnten, würde er bereits über alle Berge sein.
Da das orangefarbene Licht der Dämmerung die Landschaft bereits so weit erhellte, dass er alle Einzelheiten des vor ihm auftauchenden Meierhofes ausmachen konnte, zog er die Kapuze tiefer in die Stirn und die Schultern ein, um weniger bedrohlich zu wirken. In gemächlichem Trab näherte er sich dem Hoftor, beugte sich über den Hals des Pferdes und bat einen der mit Mistgabeln bewaffneten Knechte, nach Schwester Clementine zu schicken.
»Sie ist keine Schwester mehr«, wies dieser ihn zurecht. »Sie ist die Frau des Hoferben! Was wollt Ihr?«
Mit Not verkniff Ortwin sich eine scharfe Erwiderung, doch da er kein Misstrauen erwecken wollte, versetzte er honigsüß: »Ich bringe Kunde aus Ulm. Es geht um ihre Mutter.«
Es schien, als habe er mit dieser spärlichen Information die Neugier des Burschen befriedigt, da dieser sich brummend von ihm abwandte und auf ein prächtiges, zweistöckiges Haus zueilte, aus dem kurz darauf eine junge Frau auftauchte. Ihr blondes Haar löste sich halb aus dem einfachen Kopftuch, als sie auf Ortwin zustürmte und zu ihm aufblickte.
»Was ist geschehen?«, fragte sie außer Atem und lud den Besucher mit einer Geste ein, abzusitzen.
Dieser schüttelte jedoch ablehnend den Kopf und legte scheinheilig wie im Gebet die Handflächen aneinander. »Eure Mutter liegt im Sterben«, versetzte er – ohne zu wissen, wie nah diese Lüge der Wahrheit kam. Genüsslich beobachtete er, wie die Farbe aus dem Gesicht der Schönen wich, als er fortfuhr. »Sie grollt weder Euch noch Eurer Schwester«, heuchelte er, ohne rot zu werden. »Es war ihre größte Bitte, dass ich Eurer Schwester persönlich etwas ausrichte«, presste er mit gekünstelt belegter Stimme hervor. »Wo kann ich sie finden?«
Einen Moment lang verengten sich die Augen der jungen Frau misstrauisch, bevor sie schließlich ergeben die Schultern hob und seufzte: »Ihr kommt zu spät. Brigitta ist nicht mehr hier.«
Als habe ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt, zuckte Ortwin bei diesen Worten zusammen.
»Was soll das heißen?«, fragte er schroff, und alle Freundlichkeit fiel so unvermittelt von ihm ab, dass Clementine erschrocken vor ihm zurückwich. »Sag schon, oder soll ich dir Beine machen?«, knurrte er – die Anrede wechselnd – und schwang sich so schnell aus dem Sattel, dass die junge Frau erst reagierte, als es zu spät war.
Sie öffnete gerade den Mund, um einen der Arbeiter zu Hilfe zu rufen, als sich Ortwins schwielige Hand auf ihr Gesicht presste.
»Keinen Laut«, zischte er und funkelte sie gefährlich an. »Lüg mich nicht an! Wo ist sie?«
Clementines Augen weiteten sich im Erkennen, als sie begriff, wen sie vor sich hatte, und einen kurzen Moment bereute Ortwin beinahe, dass er mit der Schwester dieser Schönheit verlobt war. Was für eine makellose Haut!, fuhr es ihm durch den Kopf, doch augenblicklich rief er sich selbst zur Ordnung. Er musste das vermaledeite Flittchen erwischen, bevor es ihm durch die Lappen ging! Seine Freiheit stand auf dem Spiel. Deshalb schob er sein Gesicht so nah an das der jungen Frau, dass er die Seife riechen konnte, mit der sie ihr Haar gewaschen haben musste.
»Ich frage dich nicht noch mal«, sagte er kalt und löste die Finger so weit von ihren Lippen, dass sie ihm Antwort geben konnte.
»Sie ist heute Morgen mit den Knechten zum Markt nach Ulm gefahren«, stieß sie atemlos hervor und setzte verächtlich hinzu: »Du kommst zu spät!«
Ortwins freie Hand kribbelte, doch im letzten Augenblick hielt er sich davon ab, sie zu ohrfeigen. Er durfte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Landarbeiter noch mehr auf sich ziehen, denn gegen eine Übermacht aufgebrachter Bauernlümmel hätte er keine Chance. Deshalb wandte er sich mit einem gespielt
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