Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
kaum hatte er den Marktplatz hinter sich gelassen, ließ unwillkürlich sein Herz schneller schlagen. Genauso majestätisch, wie er ihn in Erinnerung hatte, erhob sich der Kirchenbau hoch über die Dächer der umstehenden Häuser, die er zwergenhaft und schäbig erscheinen ließ. Allerdings schien sich einiges verändert zu haben. Mit zusammengekniffenen Augen begutachtete Wulf das immer noch unvollendete Gewölbe, an dem seit seiner Gefangennahme durch Eberhard von Württemberg nicht weitergearbeitet worden war. Mit gerunzelter Stirn trabte er auf den Westturm zu und hielt verdutzt inne, als sein Blick auf die Baustelle fiel. Anders als zuvor, schien eine weitaus geringere Zahl Handwerker beschäftigt, und die wenigen, die Wulf sah, liefen unkoordiniert durcheinander. Mit Verwunderung beobachtete er, wie ein Mörtelträger mit einem Maurer zusammenstieß, da keiner der beiden Männer auf den anderen geachtet hatte.
Seltsam!, dachte er und ritt weiter. Wo war Ulrich von Ensingen? Seine Befremdung wuchs, als er das Ziegellager passierte, in dem die gebrannten Steine schlampig übereinandergeworfen worden waren anstatt – wie früher – ordentlich gestapelt zu sein. Überall lagen Gerüststangen und Bretter im Weg, durch die Wulf sich mühsam einen Weg bahnte. Was war hier nur vorgefallen?, fragte er sich. Warum, um Himmels Willen, wirkte alles so … er rang nach dem richtigen Wort … ausgefranst ?
Ein heftiger Wortwechsel in der Nähe der Bauhütte ließ ihn aufhorchen. Mit zornesrotem Kopf brüllten sich zwei von den Schatten der Chortürme halb verschluckte Männer an, die kurz davor schienen, handgreiflich zu werden.
»Nur über meine Leiche! Selbst wenn der Bürgermeister sich auf den Kopf stellt, darauf hat er keinen Anspruch!«
Erstaunt erkannte Wulf die Stimme seines ehemaligen Meisters, der soeben in die Sonne trat – auf dem Fuße gefolgt von einem schmächtigen, pfauenhaft gekleideten Kerl, der heftig gestikulierend auf ihn einschimpfte.
»Ich weiß, worauf Euer Schwager hinauswill«, knurrte Ulrich von Ensingen, nachdem er erneut zu seinem Verfolger herumgewirbelt war. »Aber eins lasst Euch sagen.« Die Drohung in seiner Stimme war kaum zu überhören. »Eher verbrenne ich mein Musterbuch als es Euch zu überlassen!« Sein Gesicht hatte inzwischen den Farbton reifer Erdbeeren angenommen. »Ihr wollt Werkmeister dieser Baustelle sein? Dann fertigt gefälligst Euer eigenes Musterbuch an! Der Teufel soll mich holen, wenn ich Euch auch nur einen Furz meines Geistes überlasse.« Die letzten Worte unterstrich er damit, dass er den Finger in die magere Brust seines Gegenübers bohrte.
»Aber der Rat …«, hub dieser lahm an, doch Ulrich von Ensingen fuhr ihm grob über den Mund.
»Der Rat kann mich mal!«, tobte er und packte den Mann am Ärmel seiner mit Silberfäden durchwirkten Schecke. »Diese selbstgefälligen Narren sollen mich kennenlernen. Am besten, wir klären diese Angelegenheit sofort!«
Damit stürmte er mit seinem Opfer im Schlepptau auf Wulf zu, in dem beim Anblick des Baumeisters so viel alte Wut hochgekocht war, dass er sich schwertat, ruhig zu bleiben. Einzig die immer noch irgendwo in ihm schlummernde Bewunderung für die Kunst des Baumeisters sorgte dafür, dass die Abscheu, die er für Ulrich als Vater empfand, nicht die Oberhand gewann. Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er sich aus dem Sattel gleiten und vertrat den beiden Männern entschlossen den Weg.
»Einen Augenblick«, forderte er forsch und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ohne dass er sich dessen bewusst war, zuckte die Rechte zu der Waffe an seiner Seite und seine Muskeln spannten sich, als Ulrich Anstalten machte, ohne Worte an ihm vorbeizurauschen. »Ich habe einige Fragen an Euch.«
Den Bruchteil eines Augenblicks ließ er sich von der herrischen Maske täuschen, die der Baumeister aufgesetzt hatte, doch ein Blick in die blauen Augen bescherte ihm eine überraschende Erkenntnis. Er hat Angst vor mir!, erkannte er, als Ensingen aufbrauste: »Ich habe jetzt keine Zeit!« Sein Kinn wies auf den Kater auf Wulfs Waffenrock, während er kaum merklich den Abstand zwischen sich und dem jungen Mann vergrößerte, indem er den Geck vorschob. »Ich habe doch schon Eurem Vorgänger gesagt, dass ich nicht weiß, wo das Mädchen ist.«
Ulrichs glatt rasierte Wangen überzog eine leichte Röte, als Wulf seinen sprachlosen Widersacher zur Seite drängte und einen Schritt auf den Werkmeister zutat, sodass er
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