Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Dorfplatz umgesehen hatte, gelang es ihr allmählich, klarere Gedanken zu fassen. Das Pferd! Sie musste die Stute stehlen! Dann würde es ihm – ganz egal, was er auch unternahm – niemals gelingen, sie einzuholen!
Fahrig vor Aufregung wandte sie sich nach links, duckte sich in den Schatten des Gasthauses und drückte sich an der Wand entlang hinter das Haus, wo sich wie erwartet ein Schuppen zwischen dem Abtritt und einem Misthaufen befand. Vorsichtig stahl sie sich in die heruntergekommene Hütte, in der ein magerer Ochse, ein uralter Klepper und Ortwins Pferd sich die einzige Box teilten. So schnell sie konnte, streifte sie der Stute ihres Vaters das Zaumzeug über und wuchtete den Sattel auf deren Rücken. Dann führte sie das leise schnaubende Tier ins Freie, wo sie eine böse Überraschung erwartete.
Wie eine der furchtbaren Schreckgestalten der Apokalypse fuhr der inzwischen bekleidete Ortwin auf sie hinab, und wenngleich sein Gesicht von fiebrigen Flecken entstellt war und schweißnass glänzte, war genug Kraft in ihm, um sie mit einem einzigen Schlag zu fällen.
Ihr Kopf dröhnte noch von dem Hieb, als er sie auf den Bauch drehte, ihr brutal das Knie in die Rippen trieb und ihr die Hände so fest auf den Rücken band, dass diese augenblicklich taub wurden. Dann warf er sie wie einen Sack über die Kruppe des Pferdes und ergriff die Zügel.
»Da hast du die Rechnung ohne mich gemacht«, stieß er heiser hervor, wurde jedoch sofort von einem Hustenanfall unterbrochen, der seinen ganzen Körper schüttelte. Sobald er sich wieder in der Gewalt hatte, zog er die Stute vom Hof und führte sie zu der Tränke in der Mitte des Dorfplatzes, wo er lauthals nach dem Wirt brüllte.
»Einen Schlauch Wein, Brot und Fleisch!«, herrschte er den Mann an, der kurz darauf mit dem Gewünschten zurückkehrte. Nachdem einige Münzen den Besitzer gewechselt hatten, spürte Brigitta, wie Ortwin den Proviant am Sattel festzurrte und den Fuß in den Steigbügel setzte. Mit angespannten Muskeln wartete sie darauf, dass sich das Tier in Bewegung setzte, doch bevor es dazu kommen konnte, drang der dumpfe Klang von herankommenden Hufen an ihr Ohr. Trotz ihrer Lage hob sie mühsam den schmerzenden Kopf, um einen Blick auf den Reiter zu erhaschen, da Ortwin mit einem gotteslästerlichen Fluch mitten in der Bewegung erstarrt war.
Verwischt vom Staub und der flimmernden Hitze sah sie einen breitschultrigen, nach Rittermanier gekleideten Mann die Dorfstraße hinaufgaloppieren, und noch bevor sie den buckelnden Kater auf seiner Brust erblickte, durchzuckte sie ein Stich des Erkennens. Auch wenn seine Gestalt breiter und kräftiger wirkte als sie sie in Erinnerung hatte, und er ungewohnt feine Kleider trug – ihren Geliebten würde sie selbst unter Tausenden ausmachen.
»Wulf!«, rief sie, so laut sie konnte.
Einen Augenblick fürchtete sie, dass Ortwin sie eher töten würde als Gefahr zu laufen, sie an einen anderen zu verlieren, da das unheimliche Flüstern von Metall auf Metall verriet, dass dieser den langen Dolch an seinem Gürtel aus der Scheide befreite. Doch der erwartete Stoß blieb aus. Stattdessen trat der Steinmetz vor die Stute und stürzte sich mit einem heiseren Schrei auf den Reiter, der seinen Falben zum Stehen brachte und leichtfüßig aus dem Sattel sprang. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog dieser das Schwert an seiner Seite und wehrte den hinterhältig geführten Hieb seines Gegners mühelos ab, um augenblicklich mit einer schnellen Schlagfolge nachzusetzen. Wenngleich Brigitta sich den Hals verrenkte, gelang es ihr nicht, den Kampf zu verfolgen, da die beiden Männer schon bald aus ihrem Sichtfeld verschwanden. Lediglich das Aufeinandertreffen der Waffen und ein gelegentliches Keuchen verrieten ihr, dass die Auseinandersetzung noch in vollem Gange war, und als einem durchdringenden Klirren der hässliche Laut eines fallenden Körpers folgte, setzte ihr Herz einen Schlag aus.
»Wulf!« Mit einem Aufbäumen versuchte sie vom Rücken des Pferdes zu rutschen, doch bevor ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt wurden, umfassten zwei starke Hände ihre Taille, und sie wurde sanft auf die Füße gestellt.
»O mein Gott, Brigitta!« Entsetzt glitt der Blick ihres Geliebten über die unzähligen Blessuren und blieb an der Platzwunde an ihrer Stirn haften, bevor er zu ihren weit aufgerissenen Augen wanderte. Einige Sekunden versanken sie sprachlos im Anblick des anderen, tauschten im Bruchteil eines Atemzuges mehr aus
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