Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
wurde, um die Opfer zu befreien, die ohne viel Federlesen auf einen herbeigerufenen Karren verfrachtet wurden. Da solche Unfälle an der Tagesordnung waren, hielt sich niemand lange damit auf; es wurde lediglich ein Bote ausgesandt, der die Witwen und Waisen vom Tod ihrer Angehörigen in Kenntnis zu setzen hatte.
»Es geht weiter«, befahl Ulrich, sobald notdürftig aufgeräumt worden war, und bemerkte mit einem Blick auf den erbleichten Kreuzwinkelmeister: »Mehr als zwei kann ich Euch nicht abtreten. Wir sind momentan knapp mit Hauern.« Damit zeigte er auf Wulf und einen weiteren Maßwerkmetzen und bedeutete ihnen mit einer Kopfbewegung, sich zu den Portalbildhauern zu gesellen. »Ihr beide. Sollten sie nichts taugen, lasst es mich wissen, dann könnt Ihr sie jederzeit austauschen«, fügte er an den Kreuzwinkelmeister gewandt hinzu, bevor er sich ohne weitere Worte zurück zur Nordseite des Bauwerks begab, um den Seilern eine lautstarke Standpauke zu halten.
Immer noch fassungslos folgte Wulf der kleinen Schar Bildhauer, die schweigend die Trümmer ihrer Skulpturen auflasen, um diese auf einen der Haufen mit Abfallsteinen zu werfen.
»Alles umsonst«, murmelte einer der Gesellen und ging in die Knie, um eine in tausend Stücke gegangene Apostelfigur auszugraben. »Alles umsonst.«
Auch die meisten der bereits begonnenen Jungfrauen schienen bei dem Unglück zu Bruch gegangen zu sein, und wenngleich Wulfs Herz eigentlich Freudensprünge hätte machen müssen, da sein Wunsch wie durch Zauberhand in Erfüllung gegangen war, fragte er sich, welchen Preis der Teufel wohl dafür von ihm fordern würde. Vier Leben! Seine Hand zitterte, als er schweigend bei der Bergung der wenigen nicht zertrümmerten Stücke half. Vier Männer hatten ihr Leben verloren, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen. Er erschauerte. Hatte er den Unfall durch seine dunklen Gedanken und seinen Neid ausgelöst? »Vergib mir meine Missgunst, Herr«, flehte er tonlos und schrak zusammen, als Lutz ihm schwer die Hand auf die Schulter legte.
»Und dabei heißt es immer, die Zimmerleute hätten den gefährlichsten Beruf«, scherzte dieser lahm und verzog gequält den Mund.
»Wir ziehen um«, unterbrach ihn die Stimme des offensichtlich erbosten Meisters, der seine Männer bis an die Ummauerung des Barfüßerklosters führte, bevor er ihnen den Befehl gab, die Werkstücke abzusetzen. »Das war das letzte Mal, dass jemand unter meinem Kommando die schlampige Arbeit anderer ausbadet!«, erzürnte er sich und wies Wulf geistesabwesend einen Steinblock zu, der bereits die groben Umrisse eines Mädchens zeigte. »Hier kann uns keiner dieser Pfuscher etwas anhaben!« Damit wandte er sich seiner eigenen Skulptur zu und vergaß die Neuzugänge, die sich schüchtern an den Werkstücken der Verstorbenen zu schaffen machten.
Als sich der Horizont endlich rot färbte, atmete Wulf erleichtert auf, da die Spannung und das nicht abflauen wollende Schuldgefühl ihn immer fahriger hatten werden lassen. Mehr als einmal wäre er um ein Haar abgerutscht und hätte die Figur verdorben – was er kurzzeitig beinahe absichtlich getan hätte, um seiner Buße Ausdruck zu verleihen. Doch dann, im letzten Augenblick, hatte ihn eine innere Stimme davor gewarnt, den Willen Gottes auslegen und verstehen zu wollen. Woher sollte er wissen, was der Herr mit diesem Unfall bezweckt hatte? Ob die ganze Angelegenheit überhaupt etwas mit ihm zu tun hatte? Und ob er sich nicht wieder einmal zu wichtig nahm? Der Streit des Werkmeisters mit dem Bauverwalter fiel ihm wieder ein. Vielleicht hatte Gott den Ulmern klarmachen wollen, dass der Turmbau ihm tatsächlich ein Dorn im Auge war. Er seufzte leise, als er sich vorstellte, wie der unsympathische Heinrich von Husen diesen Vorfall im Rat gegen Ulrich verwenden würde, obschon es sich bei dem Unglück um nichts Ungewöhnliches handelte: Zu oft führten schlampige Arbeit oder Unachtsamkeit zum Tod oder zu Verstümmelungen, weshalb stets Mitglieder der Orden mit Bahren oder Ochsenkarren vor Ort waren, um die Verletzten in die Hospitäler zu bringen.
Mit schmerzendem Kopf sammelte Wulf seine Werkzeuge ein und folgte den anderen zur Bauhütte, wo er wenig freudig seinen Lohn entgegennahm. Nachdem er in gedrückter Stimmung über den Münsterplatz geschlichen war, war er beinahe froh, als ihm der Obergeselle Ortwin über den Weg lief, der ihm einen bissigen Blick zuwarf, bevor er sich vor ihm ins Haus drängte. Nicht einmal der Anblick der
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