Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
stellte er kühl fest und gab Ortwin mit einer Geste zu verstehen, ihn allein zu lassen. »Da bist du ja endlich.«
Den Protest schluckend, der ihm auf der Zunge lag, verneigte Wulf sich und grüßte knapp.
»Die Quader mit deinem Steinmetzzeichen sind ordentlich«, stellte Ulrich zu Wulfs Erstaunen fest. Ein ironisches Lächeln erhellte das strenge Gesicht des Meisters, als er seinen Gesellen von Kopf bis Fuß betrachtete. »Das Bossieren hat offenbar auch deinen Kleidungsgeschmack verbessert.« Er wurde wieder ernst. »Einer der Parliere hat mir berichtet, dass du Talent im Maßwerkhauen hast.« Er wies auf die hohl glotzenden Fensterbögen der Fassade. »Deshalb teile ich dich Meister Gerhard zu. Er arbeitet dort drüben.« Er wies auf einen Platz unter einem der gewaltigen Galgenkräne, wo eine Handvoll Hauer mit hölzernen Schablonen zugange war.
»Aber …«, begann Wulf, doch Ulrich hatte ihn bereits stehen lassen. Ungläubig starrte der junge Mann ihm hinterher, während sich bittere Enttäuschung in ihm ausbreitete. Verflucht!, dachte er erbost und warf sich sein Bündel wieder über die Schulter, um zu der angewiesenen Stelle zu traben. Warum hatte er Ulrich auch in solch einer unpassenden Situation erwischen müssen? Jetzt würde er die nächsten Wochen damit zubringen, langweilige Blumenmuster für Fensterbögen zu meißeln!
Nachdem er sich Meister Gerhard vorgestellt und dieser ihm eine Schablone zugewiesen hatte, verbrachte er die folgenden Stunden mit dieser wenig anspruchsvollen Aufgabe und träumte von Klugen Jungfrauen. Wenn ihm doch nur die Möglichkeit gegeben würde, sein bildhauerisches Talent unter Beweis zu stellen!, dachte er sehnsüchtig und ließ zum wohl hundertsten Mal den Blick zu den ersten bereits am Portal befestigten Figuren abschweifen. Wenn man ihm freie Hand lassen würde, dann würde er einer der Statuen das Gesicht der schönen Brigitta geben – auch wenn Ulrich von Ensingen ihn dafür vermutlich davonjagen würde. Ein Ziehen in seinem Unterleib ließ ihn den Gedanken verdrängen und darauf hoffen, dass bald Abend wäre. Dann würde er sie mit viel Glück vielleicht noch heute zu sehen bekommen, wenngleich die Familie – anders als Gesellen, Knechte, Mägde und Lehrlinge – ihre Mahlzeiten in der Stube und nicht in der Küche zu sich nahm.
Er war gerade dabei, sich die Worte zurechtzulegen, mit denen er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, als ihn ein markerschütternder Schrei zusammenfahren ließ. Erschrocken ließ er Klöpfel und Eisen fallen, folgte dem ausgestreckten Arm eines seiner Nachbarn und sprang unvermittelt auf. Hoch über den Köpfen der nichts ahnenden Maurer, Zimmerleute und Steinmetze riss in ebendiesem Moment der letzte Strang eines Hanfseiles, an dem eine der hölzernen Gewölberippen befestigt worden war. Während Köpfe nach oben schossen und Münder Warnrufe formten, sauste die gewaltige Last begleitet von einem unheilvollen Pfeifen auf die Stelle zu, an der die Schnelleren unter den Bildhauern hasenflink auseinanderspritzten. Aus dem Augenwinkel sah Wulf, wie Lutz sich mit einem Hechtsprung unter einen der Strebebögen rettete, während das Holz krachend an der Stelle zersplitterte, wo der Freund noch vor wenigen Momenten gesessen hatte.
Die Erleichterung ließ ihn ein beinahe hysterisches Kichern anstimmen, das jedoch sofort verstummte, als ihm klar wurde, was die dunklen Flecken auf dem hellen Holz zu bedeuten hatten. Bevor er begriffen hatte, was er tat, trugen ihn seine Beine zu der Unfallstelle, an der bereits mehrere Helfer versuchten, die von der Last zermalmten Handwerker zu befreien. Einer der Männer schien noch am Leben zu sein, da er abgehackte, fast tierische Laute von sich gab, doch als Wulf sich ihm näherte, war ihm umgehend klar, dass der Mann den Tag nicht überleben würde. Von einem abgesplitterten Teil des Holzbogens durchbohrt, wirkte er wie ein von Kindern aufgespießter Käfer – ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass seine Arme und Beine wild und unkoordiniert durch die Luft zuckten. Wulf hatte sich gerade mit einigen anderen Männern über ihn gebeugt, um die Last von ihm zu heben, als sich ein Blutfaden aus seiner Nase löste und sein Körper erschlaffte. Ein milchiger Schleier legte sich über die aus den Höhlen getretenen Augen, die der herbeigeeilte Ulrich von Ensingen mit einem kurzen Gebet schloss. Sprachlos verfolgte Wulf, wie in Windeseile einer der Lastkräne an der Gewölberippe befestigt
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