Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
am nächsten Morgen für das geschämt hatte, was geschehen war! Nachdem ihm die Flecken auf seiner Matratze verraten hatten, dass es sich nicht um einen Traum gehandelt hatte, war er mit hochrotem Kopf zum Frühstück in die Küche geschlichen, wo Hans ihn mit einem breiten Grinsen empfangen hatte.
»Na, wie war die Nacht?«, hatte dieser schelmisch gefragt und dem älteren auf die Schulter geklopft. »Ich konnte nicht schlafen.« Als Wulf eine Antwort stammeln wollte, hatte er beruhigend hinzugesetzt: »Früher oder später besucht sie jeden. Mir hat sie in der ersten Woche meiner Lehrzeit die Unschuld geraubt.« Der fassungslose Ausdruck auf Wulfs Gesicht hatte ihn kichern lassen. »Sie ist wie ein Schmetterling. Von einem zum anderen.« Der Ekel, der Wulf bei diesen Worten den Appetit verdorben hatte, war immer noch als schaler Nachgeschmack vorhanden. Wie bei seinem ersten Liebesabenteuer!, dachte er bitter und erinnerte sich an die Tochter eines Zimmermanns, die ihn mit vierzehn Jahren verführt hatte. Älter und erfahrener als er, hatte sie ihn in die Geheimnisse des Erwachsenenlebens eingeweiht, bevor sie kurz darauf an einen Fuhrmann verheiratet worden war.
Er stöhnte leise und zog sich das Hemd über den zerzausten Schopf. Wie sollte er Brigitta jemals wieder in die Augen blicken?, fragte er sich niedergeschlagen. Würde sie ihn nicht für seine Schwäche verachten – und das zu Recht? Das Kratzen des Stoffes vertrieb die letzte Müdigkeit. Andererseits ließ ihr Verhalten ihm gegenüber ohnehin nicht viel Spielraum für Hoffnung!
Mit einem Seufzen zwängte er die Füße in die Schuhe, die er am Samstag vom Schmutz der Woche gereinigt hatte, und stemmte sich in die Höhe. Da Ortwin am vergangenen Abend seine Siebensachen gepackt hatte und in eine Herberge umgezogen war, schliefen nur noch Hans, Wulf selbst, die beiden Knechte und der inzwischen aus Augsburg zurückgekehrte Geselle Martin in der kleinen Kammer, durch deren Fensterluken das aufgeregte Zwitschern der Vögel hereindrang. Nachdem er ein hastiges Frühstück hinuntergeschlungen hatte, machte er sich mit den anderen auf zur Baustelle, auf der bereits die ersten Kräne in Bewegung gesetzt wurden. Immer noch hing die schwüle Hitze des Vortages wie eine Glocke über der Stadt, sodass die von den Mörtelgruben ausstrahlende Kühle eine willkommene Erfrischung darstellte. Anders als in den meisten Jahren zuvor war in diesem Jahr die Schafskälte ausgeblieben, die stets zu Beginn des Monats Juni kühle Luft und manchmal sogar Nachtfrost brachte.
»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«, begrüßte ihn Lutz, der bereits den dreibeinigen Klappschemel aufgeschlagen hatte und mit Fäustel und Schlageisen zugange war.
»Gar keine«, gab Wulf kurz angebunden zurück, ließ sich ebenfalls nieder und zog sein Werkstück zwischen die Knie, um der allmählich Gestalt annehmenden Figur einige Hiebe zu verpassen. »Ich habe Kopfweh«, log er und ging dazu über, die Gesichtszüge zu verfeinern. Entgegen besserem Wissen wies die Statue der Jungfrau inzwischen mehr als nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der Dame seines Herzens auf, was ihm vermutlich früher oder später Ärger, wenn nicht gar einen Verweis aus dem Haus seines Meisters einbringen würde.
Bis zum Mittagessen arbeitete er verbissen und schweigend an dem Kunstwerk, blockte alle Versuche des Freundes ab, eine Unterhaltung zu beginnen, und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Immer häufiger keimten die zu lange unterdrückten Schuldgefühle in ihm auf, da das Behauen des gleichmäßigen Sandsteins ihm die Ratschläge seines Ziehvaters in Erinnerung rief. Als drücke ihn der Alb seiner Undankbarkeit nicht genug, kramte er zudem beinahe jeden Abend das fadenscheinige Taschentuch mit dem Wappen seines leiblichen Vaters hervor, um es anzustarren und sich einen Feigling zu schelten, weil er die Suche nach ihm vernachlässigte. Nach der niederschmetternden Nachricht vom Tod seiner Mutter schien es ihm allerdings nicht gelingen zu wollen, den Mut aufzubringen, sich auf die Suche nach dem vermutlich ebenfalls verstorbenen Ritter zu machen. Wenngleich er ihn niemals zu Gesicht bekommen hatte, wusste er instinktiv, dass er die Wahrheit lieber nicht kennen wollte als mit der schmerzlichen Alternative konfrontiert zu werden. So blieb ihm wenigstens das Bild, das er in seiner Fantasie erschaffen hatte. Und dennoch fühlte er sich verloren und einsam.
Ein ärgerlicher Ausruf ließ ihn den
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