Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
verschluckte Brigitta sich beinahe an dem Stück Honigkuchen, der inzwischen den Weg auf den Tisch gefunden hatte.
»Und du hättest dir keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können«, brummte der Bauer etwas nüchterner. »Wir haben kaum mehr Arbeiter. Viele der Hörigen sind in die Städte geflohen, weil sie die Abgaben nicht mehr bezahlen konnten. Jede Woche sinken die Preise für Getreide und das Land bleibt unbestellt. Das kann auch ich mir auf Dauer nicht leisten.«
Gisla, die bis jetzt geschwiegen hatte, räusperte sich. »Und der Hungerbrunnen ist geflossen«, berichtete sie düster.
»Vergiss den Hungerbrunnen!«, dröhnte ihr Gemahl. »Das ist abergläubisches Geschwätz des Gesindes.« Ohne auf die flammende Röte zu achten, die ihr in die Wangen schoss, setzte er hinzu: »Die Quelle führt jedes Jahr Wasser. Und solange ich denken kann, hat das erst drei Mal zu Missernten geführt.« Gisla schwieg gekränkt. »Sobald ihr satt seid, kann Ruo euch eure neue Bleibe zeigen.« Er warf den beiden Schwestern einen zweideutigen Blick zu. »Allerdings kann nur deine Frau unter einem Dach mit dir wohnen. Die andere schläft bei den Mägden im Gesindehaus.«
Als Brigitta eine Stunde später gesättigt und todmüde der ununterbrochen schnatternden Magd in den flachen Gesindebau folgte, in dem die weiblichen Hilfskräfte untergebracht wurden, war es bereits stockdunkel. Froh darüber, nicht selbst zu der Unterhaltung beitragen zu müssen, stolperte sie hinter dem Mädchen in eine der Kammern, in der sich mehrere, zum Teil schon belegte Bettkästen drängten.
»Du kohsch in meim Bett schlofa«, informierte sie die glutäugige Tochter eines Knechtes, deren Namen Brigitta nicht richtig verstanden hatte. »Am End vom Gang ischd a Waschkammer.« Damit stellte sie die Kerze auf einer Kiste ab und schlüpfte ohne jegliche Scham aus ihrem einfachen Hemdkleid. Splitternackt kniete sie sich auf den sauber gefegten Boden und sagte ihr Nachtgebet, bevor sie zwischen die groben Wolldecken schlüpfte.
Obwohl Brigitta jeder einzelne Knochen im Leib schmerzte und sie nichts lieber getan hätte, als es ihr gleichzutun, griff sie nach der Kerze und begab sich in den Waschraum. Nachdem sie sich gründlich mit Wasser abgeschrubbt hatte, legte sie den zerfetzten Umhang zusammen, zog ihr Kleid über den Kopf und trug beides zurück in die Schlafkammer. Nur mit ihrem Untergewand bekleidet, sprach auch sie ein Gebet, blies die Kerze aus und drängte sich neben ihre bereits leise schnarchende Bettgefährtin. Einige Zeit lang lauschte sie auf die Geräusche der Schlafenden, dann driftete auch sie ins Reich der Träume ab.
Kapitel 31
Ulm, Anfang Juli 1368
»Ich sage euch, wir haben einen Judas unter uns«, fauchte der erzürnte Maurermeister mit hochrotem Kopf. Vor ihm und dem Halbkreis aus Steinmetzen, Maurern und Zimmerleuten, die am Fuß des Westturmes zusammengelaufen waren, prangte ein hässlicher, beinahe mannshoher Riss in dem robusten Ziegelfundament. In einer breiten Zickzacklinie zog sich der Fehler durch Mörtel und Mauerwerk gleichermaßen, und es bedurfte keines Fachmannes, um festzustellen, dass sowohl Anfang als auch Ende der Beschädigung mutwillig und durch ein spitzes Werkzeug herbeigeführt worden waren. »Unsinn!«, bellte Heinrich von Husen, der wie von Zauberhand präsentiert aus der Menge hervortrat – begleitet von einem unscheinbaren, in die Tracht eines Steinmetzen gekleideten Mann, den Ortwin als den Schwager des Ratsherrn erkannte.
»Gott braucht keine Unterstützung, um seinen Unwillen kundzutun«, trompetete er pompös und bückte sich, um den Schaden zu begutachten. »Das ist ein Zeichen des Herrn!«, tönte er. »Seht alle her!« Mit einer unschuldigen Miene, als wäre es der reine Zufall, dass es sich so traf, winkte er eine Abordnung von Ratsherren herbei, die sich an diesem Tag die Fortschritte auf der Baustelle hatten ansehen wollen.
Ein unwilliges Raunen erhob sich, als die in prächtige Tracht gekleideten Vertreter der Stadt sich näherten, um der Aufforderung von Husens zu folgen, der seinen Schwager dazu drängte, die Beschädigung mit Kreide zu markieren. Ulrich von Ensingen, der die Szene scheinbar ungerührt beobachtete, verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere, sodass Ortwin einen Moment glaubte, er wolle von Husen einen Tritt in den Allerwertesten versetzen. Einige Zeit lang stocherten und diskutierten die Männer, bevor sie aufgebracht von dem Fundament zurücktraten und die
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