Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
die sich an dem filigranen Strebewerk zu schaffen machten.
Hin und her gerissen zwischen Hochstimmung und Verwirrung sah Ortwin der sich entfernenden Gestalt hinterher, bis diese in einem der Steinlager verschwand. Mailand! Wie exotisch und verlockend der Name dieser Stadt klang. Er schürzte die Lippen. Was für eine unglaubliche Zukunft Ulrich ihm da anbot! Mit einem Mal erschien ihm die von einem leicht bewölkten Himmel stechende Sonne zu heiß, und er ließ sich im Schatten der Langhausmauer auf einen unbearbeiteten Steinquader sinken. Damit hatte sich der Einsatz, der für ihn auf dem Spiel stand, noch erhöht. Brigitta musste lebendig aus diesem Haus kommen, koste es, was es wolle! Er biss die Zähne aufeinander und zwang sich zur Ruhe. Hatte seine Sorge bis jetzt nur der Rückzahlung des Kredites und der Ausrichtung seiner Meisterfeier gegolten, vermischte sich diese Furcht nun mit einem beinahe schmerzhaft brennenden Ehrgeiz. Parlier! Stellvertretender Leiter einer der bedeutendsten Bauhütten Europas! Es dauerte nicht lange, bis der Glückstaumel die Beklemmung verdrängte. Schwindelig fasste er sich an den Kopf und versuchte, den Lärm der Baustelle auszublenden.
Er wollte gerade der Versuchung nachgeben, sich in Tagträumen zu ergehen, sich in kostbare Gewänder gekleidet weltmännisch von Arbeiter zu Arbeiter schreiten zu sehen, als ein anderer Gedanke um seine Aufmerksamkeit rang. Bedeutete das nicht auch …? Er ließ die Faust in die Handfläche sausen. Wenn feststand, dass er mit Ulrich von Ensingen das Land verließ, taten sich dann nicht ganz neue Möglichkeiten auf? Nicht nur konnte er dann endlich die Angst begraben, doch noch als Mörder entlarvt zu werden; er konnte auch diesem hinterhältigen, Wucher treibenden Halsabschneider ein Schnippchen schlagen. Wenn er den Geier nur lange genug hinhielt, würde er ihm am Ende vielleicht eine lange Nase drehen können. Dann würde er ihm all die Herablassung und Unverschämtheit in gleicher Münze zurückzahlen. Er erhob sich. Blieb nur zu hoffen, dass seine Braut mit dem Leben davonkam!
Mit schwirrendem Kopf begab er sich zurück an seine Arbeit, die ihn die nächsten Stunden mehr schlecht als recht ablenkte. Je weiter der Tag fortschritt, desto drückender wurde die Hitze, bis schließlich am frühen Abend ein grollender Donner ankündigte, dass auch an diesem Tag wieder ein heftiges Unwetter drohte. Nachdem sich die Wetterlage einige Zeit lang beruhigt hatte, überschwemmten seit Anfang der Woche wieder regelmäßige Gewittergüsse die Straßen, was zur Folge hatte, dass die Stadt ungewöhnlich sauber war.
Nachdem Ortwin seine Werkzeuge verstaut hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Unterkunft in der Steingasse, die er wohl bald würde aufgeben müssen. Der Kauf des Harnisches sowie die Bezahlung des Bürgeraufnahmegeldes, der Wachskerzen für die Zunftstube und des teuren Rohsteines für sein Meisterstück hatten beinahe seine gesamte geliehene Barschaft verschlungen. Wenn er jetzt auch noch das Meistermahl bezahlen musste, stand es schlecht um seine Finanzen. Er rümpfte die Nase, als er an einer der allgegenwärtigen Tonnen aus Eichen- und Wacholderholz vorbeikam, die Tag und Nacht brannten, um den üblen Dämpfen der Pest entgegenzuwirken. Andererseits, wenn die Meister weiter starben, würde es ein billiges Mahl werden. Er zog eine Grimasse. Was auch nicht viel nützen würde, denn dann konnte er immer noch keinen Hausbesitz nachweisen, geschweige denn eine entsprechende Summe Geldes.
Er hatte gerade die Schwelle des Grünen Baumes erreicht, als die ersten Tropfen fielen. Mürrisch – die Euphorie des Nachmittages wie weggeblasen – legte er seine Steinmetztracht ab und warf sich einen fadenscheinigen Mantel mit einer weiten Kapuze über. Nur noch dieses eine Mal, dann hatte er alle Außenstände für den Geldverleiher eingetrieben und würde bis zum Ablauf der Quarantäne ruhiger schlafen können. Wenn sich dann allerdings herausstellen sollte, dass er keine Braut mehr hatte, dann würde er Ulrich von Ensingen selbst für den Lohn eines Handlangers nach Mailand folgen. Er schob den Gedanken an den Vertrag, mit dem er seine Freiheit verpfändet hatte, beiseite und machte sich auf den Weg ins Apothekerviertel.
Fluchend zog er die Kapuze tiefer ins Gesicht und legte die halbe Meile im Laufschritt zurück. Begleitet von grellen Blitzen und ohrenbetäubendem Donner fegte der Regen beinahe waagerecht durch die Gassen, sodass man kaum
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