Das Erbe der Halblinge: Roman (German Edition)
ihre Gesichter kaum zu erkennen waren. Schon seit Tagen hatte sich König Orfon nicht mehr von seinem Lager erhoben. Ein stechender Schmerz in der Brust hatte ihn ans Bett gefesselt.
Während die Massen von überwiegend untoten Angreifern Gaa belagerten, stand das Bündnis mit einem siechenden Hochkönig da, der sich nicht mal mehr auf die Magische Lanze hätte stützen, geschweige denn sie erheben und mit ihr in den Kampf ziehen können. Jetzt umklammerte er die Lanze, dieses Symbol seines Hochkönigtums, noch im Tod.
»O rfon ist ein großer Held und hat sich Ruhm erworben«, sagte Candric von Beiderland. »M an wird ihn in einer Reihe mit den anderen Hochkönigen Athranors nennen, wenn die Geschichte unseres Kontinents einst erzählt werden wird. Er wird zusammen mit seinen viel gerühmten Vorgängern Tarmon von Nalonien und Nergon von Ambalor in der jenseitigen Welt an der Tafel der Götter seinen Platz finden.«
Zunächst herrschte Schweigen. Candric XIII . von Beiderland fühlte den kalten Blick Harabans auf sich gerichtet. Schatten bildeten ein dunkles Muster auf dem holzigen Gesicht des Waldkönigs und zeichneten die kleinen, aber tiefen Furchen in seiner borkenähnlichen Haut nach und ließen sie dadurch nur umso markanter hervortreten. Neben Haraban stand Harrgyr, König des Dalanorischen Reiches, dessen kürzlich eingetroffene Flotte dafür gesorgt hatte, dass unter den Verteidigern von Gaa neue Hoffnung aufgekommen war. Allerdings war die Anzahl der Dalanorier, die mit König Harrgyrs Schiffen eingetroffen war, lange nicht so groß wie erhofft, was wohl in erster Linie dadurch begründet war, dass ihnen nicht mehr Schiffe zur Verfügung gestanden hatten, die für eine so weite Hochseereise geeignet gewesen wären. Hochgewachsen, aufrecht und mit rotstichigem, dichtem Bart, der ihm fast bis unter die Augen wuchs, stand Harrgyr da und umfasste den rubinbesetzten Griff des Schwertes, das er an seiner Seite trug. Auch wenn er eigentlich einer der mächtigsten Herrscher Athranors war, dessen Macht der von Haraban oder Candric ebenbürtig genannt werden konnte, hatte er im Moment die wenigsten Krieger am Ort des Geschehens. Dieser Umstand nahm seinem Wort natürlich einiges an Gewicht.
Kalamtar von Condenna brach schließlich das Schweigen. »E s ist Eure Stunde, Candric von Beiderland«, erklärte der Truchsess von Ambalor. »I hr müsst jetzt die Magische Lanze tragen, nun, da Orfon gefallen ist.«
»W ir könnten darauf warten, dass Orfons Sohn eintrifft«, schlug Haraban vor. »E s wäre eine gute Lösung, wenn er seinem Vater nachfolgen würde.« Haraban wandte sich an Kalamtar und fuhr entschuldigend fort: »I m Fall Eures Königs war dies in Ermangelung eines volljährigen Nachkommens ja leider nicht möglich.«
»I ch halte das für keine gute Lösung«, widersprach Kalamtar. »W ir brauchen den Hochkönig hier und jetzt. Schon deshalb, damit uns die bagorischen Truppen nicht einfach davonlaufen, nun, da ihr Herrscher sie nicht mehr anführt.« Der Truchsess machte einen Schritt nach vorn. Er trat an das Lager des toten Hochkönigs. Der Leibarzt sah ihn finster an, als Kalamtar nach der Lanze griff.
»I hr wollt Hand an den toten König legen?«, entrüstete sich der Leibarzt.
»G eh zur Seite, Quacksalber«, forderte Kalamtar.
Der Leibarzt schluckte und schien es dann für besser zu halten, der Aufforderung nachzukommen. Kalamtar nahm dem Toten die Magische Lanze ab.
Er hatte etwas Schwierigkeiten damit, die Waffe aus den im Todeskrampf um den Schaft greifenden Händen zu nehmen. Welbo, der Kanzler Harabans, warf einen Blick zu seinem Herrscher, so als könnte der Halbling aus dem Stamm von Brado dem Flüchter gar nicht glauben, dass der Waldkönig eine so geschmacklose Tat überhaupt zulassen konnte.
Aber Haraban schwieg– und Welbo hätte sich niemals erdreistet, das Wort zu erheben, wenn sein Herr es nicht tat.
Haraban schien sich damit abgefunden zu haben, dass es wohl kaum eine Alternative zu Candric gab. Er selbst hätte es liebend gerne angenommen, aber aus gewissen Gründen kam er dafür nicht in Frage. Und die Herrscher der weniger mächtigen Reiche waren nacheinander in die jenseitige Welt eingegangen.
Kalamtar trat auf Haraban zu und reichte ihm die Lanze. »W enn König Candric die Lanze aus Eurer Hand empfängt, Immerwährender Herrscher, so werdet Ihr an seinem Ruhm und an seiner Macht teilhaben«, erklärte der Truchsess.
Haraban zögerte zunächst. Dann ergriff er die
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