Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
Ich würde meinen, weniger als die Hälfte des Volkes steht hinter den Reformen. Als der König die Herrschaft des Papstes leugnete und die Klöster zerstörte, erhoben sich die Adeligen des Nordens: Sie waren entschlossen, die Kirche und die Klöster zu verteidigen. Sie nannten ihren Kampf die ›Gnadenwallfahrt‹ und marschierten unter dem Banner der fünf Wunden Christi. Der König schickte ihnen ein Heer entgegen, angeführt vom grausamsten Mann seines Landes, und dieser fürchtete die Männer des Nordens so sehr, dass er Friedensverhandlungen einberief, mit Engelszungen redete und ihnen Begnadigung und ein eigenes Parlament versprach.«
»Wer war dieser Mann?« Ich weiß es längst.
»Thomas Howard, der Herzog von Norfolk.«
»Und die Begnadigung?«
»Sobald das Heer sich aufgelöst hatte, ließ er die Anführer köpfen und ihre Gefolgsmannen aufhängen.« Ihre Stimme klingt so ausdruckslos, als beschwerte sie sich darüber, wie nachlässig der Gepäckwagen gepackt ist. »Im Namen des Königs versprach er ihnen Begnadigung und ein Parlament. Und er gab sein Wort. Doch es bedeutete nichts.«
»Sie sind besiegt?«
»Nun, darüber hinaus ließ er siebzig Mönche an den Dachbalken ihrer eigenen Klöster hängen«, sagt sie bitter. »Sie werden ihm nicht wieder die Stirn bieten. Und dennoch - der wahre Glaube wird niemals besiegt werden.«
Sie macht kehrt, sodass wir wieder Richtung Tor gehen. Jemand ruft ihr »Gute Reise« zu, und sie lächelt und nickt, aber ich kann mich nicht dazu durchringen.
»Der König fürchtet das eigene Volk«, fährt sie fort. »Er fürchtet sich vor Rivalen. Er fürchtet sich sogar vor mir. Er ist mein Vater, doch manchmal denke ich, dass er vor Misstrauen halb wahnsinnig geworden ist. Jede Angst, die ihn befällt, und sei sie noch so abwegig, hält er für wirklich. Wenn er nur träumt, dass Lord Lisle ihn betrogen hat, dann ist Lord Lisle ein toter Mann. Wenn jemand ihm einredet, dass seine Schwierigkeiten mit Euch Teil einer Intrige gegen ihn sind, dann ist Euer Leben in Gefahr. Wenn Ihr fortreisen könnt, dann solltet Ihr es tun. Er kann Furcht nicht von Wahrheit unterscheiden und Albträume nicht von der Wirklichkeit.«
»Ich bin Königin von England«, mache ich geltend. »Sie können mich nicht beschuldigen für Zauberei.«
Nun wendet sie mir zum ersten Mal ihr Gesicht zu. »Königin zu sein, rettet Euch nicht. Anne Boleyn hat es nichts genützt. Sie beschuldigten sie der Hexerei, sie fanden Beweise, und sie wurde schuldig gesprochen. Sie war ebenso Königin wie Ihr.« Unvermittelt lacht sie, als hätte ich etwas Lustiges gesagt, und ich sehe, dass ein paar meiner Hofdamen aus der Halle gekommen sind und uns beobachten. Ich lache auch, aber ich bin sicher, dass meine Angst deutlich herauszuhören ist. Prinzessin Maria nimmt wieder meinen Arm. »Wenn irgendjemand fragt, worüber wir eben geredet haben, dann werde ich erzählen, dass ich mich über die Verspätung beschwert habe und fürchtete, ich würde müde werden.«
»Ja«, stimme ich ihr zu, bin aber so voller Angst, dass ich fröstele. »Ich werde sagen, Ihr wolltet schauen, wann sie fertig sind.«
Sie drückt meinen Arm. »Mein Vater hat die Gesetze dieses Landes geändert«, sagt sie. »Nun ist es bereits Hochverrat und verlangt nach der Todesstrafe, wenn man vom König nur Schlechtes denkt. Man braucht gar nichts mehr zu sagen oder zu tun, die eigenen Gedanken bedeuten bereits Verrat.«
»Ich bin Königin«, sage ich stur.
»Hört zu«, sagt sie sehr deutlich. »Er hat auch das Justizverfahren geändert. Für eine Verurteilung braucht er jetzt kein ordentliches Gericht mehr, sondern lediglich einen Strafbeschluss. Also nicht mehr als den Befehl des Königs und die Zustimmung durch sein Parlament. Und dieses stellt sich niemals gegen den König. Ob Königin oder Bettler, wenn der König Euren Tod will, so muss er ihn jetzt nur noch befehlen. Er muss nicht einmal mehr den Hinrichtungsbefehl unterzeichnen, er braucht ihn nur zu siegeln.«
Ich ertappe mich dabei, dass ich die Zähne zusammenbeiße, damit sie nicht klappern. »Was soll ich tun?«
»Flieht«, rät sie. »Flieht, bevor er Euch holen kommt.«
Nachdem sie fort ist, fühle ich mich, als hätte mein letzter Verbündeter den Hof verlassen. Ich gehe wieder in meine Gemächer, und meine Hofdamen bauen den Kartentisch auf. Ich lasse sie das Spiel beginnen, und dann rufe ich meinen Botschafter zu mir und gehe mit ihm zum Erkerfenster, wo niemand unser
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