Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
jetzt noch, was vor so langer Zeit geschah? Es ist ja schon ein halbes Leben her, es war vor zwei Jahren! Wen kümmert das jetzt noch?
Vielleicht wird sich bis morgen alles in Wohlgefallen aufgelöst haben. Der König hat ja manchmal solche Anwandlungen; unvermittelt wendet er sich gegen einen Mann und lässt ihn köpfen. Auch gegen die arme Königin Anna von Kleve hat er sich gewandt, aber sie hat am Ende Schloss Richmond bekommen und ist jetzt seine liebste Schwester! Also gehe ich guten Mutes zu Bett und frage Lady Rochford, was sie darüber denke, und sie sieht mich ziemlich seltsam an und sagt, ich könne es wohl überstehen, wenn ich die Nerven behielte und alles leugnete, was mir zur Last gelegt würde. Dass ausgerechnet sie das sagt, sie, deren eigener Ehemann aufs Schafott stieg, eben weil er alles leugnete, ist nur ein schwacher Trost. Aber das sage ich nicht, weil ich Angst habe, dass sie böse auf mich wird.
Katherine Tylney soll mit mir zusammen schlafen. Beim Zubettgehen lacht sie und neckt mich, ich würde gewiss wünschen, sie wäre Thomas Culpepper. Ich erwidere nichts darauf, denn ich wünsche es mir tatsächlich. Ich wünsche es mir so sehr, dass ich nicht einschlafen kann. Während Katherine schon längst schnarcht, liege ich noch wach und stelle mir vor, alles wäre anders gekommen. Tom wäre in unser Haus in Lambeth gekommen und hätte mit Francis um mich gekämpft, ihn vielleicht sogar getötet. Dann hätte er mich aus dem Hause genommen und geheiratet. Wäre Tom schon damals zu mir gekommen, dann wäre ich nie Königin geworden und hätte nie eine Kette mit Tafeldiamanten besessen. Dafür hätte ich aber die ganze Nacht in seinen Armen liegen können, und nun scheint mir das die bessere Wahl zu sein. Heute Nacht ganz sicher.
Ich schlafe sehr schlecht und bin bereits im Morgengrauen wieder wach. Das graue Licht dringt durch die Läden, und ich denke, dass ich all meinen Schmuck hergeben würde, um Tom Culpepper zu sehen und sein Lachen zu hören. Ich würde ein Vermögen dafür geben, wieder in seinen Armen zu liegen. Hoffentlich weiß er, dass ich in meinen Gemächern eingesperrt bin, und glaubt nicht, dass ich mich absichtlich von ihm fernhalte. Es wäre schrecklich, wenn er von meinem Verhalten gekränkt wäre und einer anderen den Hof machen würde. Ich würde sterben, wenn er seine Gunst einem anderen Mädchen schenkte. Ich glaube wirklich, es würde mir das Herz brechen.
Ich würde ihm ja ein Billett schicken, aber niemand darf meine Gemächer verlassen, und ich wage es nicht, einem der Diener eine Nachricht anzuvertrauen. Sie bringen mir das Frühstück in die Gemächer, ich darf nicht einmal zum Essen hinaus. Ich darf auch nicht in die Kapelle; ein Beichtvater soll zu mir kommen und mit mir beten, bevor der Erzbischof mir einen weiteren Besuch abstattet.
Langsam habe ich es satt. Diese Behandlung ist ungerecht, vielleicht sollte ich dagegen protestieren. Ich bin die Königin von England, sie können mich nicht in meinem Zimmer einsperren wie ein ungezogenes Kind. Ich bin erwachsen, ich bin eine Dame, ich bin eine Howard. Ich bin die Frau des Königs. Ich glaube, ich sollte mit dem Erzbischof sprechen und ihn darauf hinweisen, dass solche Behandlung ungehörig ist. Ich denke so lange darüber nach, bis ich wirklich zornig werde. Ich fasse den Entschluss, vom Erzbischof Respekt einzufordern.
Und dann kommt er gar nicht! Wir sitzen den ganzen Morgen wie auf heißen Kohlen, wir versuchen zu nähen und einen guten Eindruck zu machen. Doch der Morgen verstreicht und der halbe Nachmittag dazu, bis endlich die Tür aufgeht und der Erzbischof erscheint, mit einem sehr ernsten Gesicht.
Meine Damen flattern so hastig auf, als wären sie eine Schar unschuldiger Schmetterlinge, die mit einer ekligen Schnecke eingesperrt sind. Ich bleibe sitzen, denn immerhin bin ich die Königin. Ich wünschte nur, ich könnte so ein Gesicht machen wie Königin Anna, damals, als sie sie holten. Sie sah wirklich unschuldig aus, wie zu Unrecht beschuldigt. Jetzt tut es mir leid, dass ich eine Aussage gegen sie unterzeichnete. Jetzt begreife ich, wie unangenehm es ist, unter Verdacht zu stehen. Aber wie hätte ich ahnen sollen, dass ich eines Tages in die gleiche Lage kommen würde?
Der Erzbischof nähert sich mir mit Trauermiene. Er sieht aus, als habe er einen inneren Kampf auszufechten. Einen Augenblick lang bin ich davon überzeugt, dass er sich für sein gestriges Benehmen entschuldigen will - und dass er
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