Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
gelitten, weil ich mit ihm fühlte. Ich wusste, was es ihn kostete, unser Geheimnis zu bewahren.
Ich vermisse ihn. Ich liebe ihn immer noch, auch wenn er nicht mehr auf dieser Erde weilt und mich nicht mehr lieben kann. Ich liebe ihn immer noch, obwohl er tot ist, und ich vermisse ihn, wie jede junge Frau ihren Liebsten vermissen würde. Immer noch träume ich davon, ihn wiederzusehen, und dann fällt mir wieder ein, dass es nicht sein kann. Und das ist schmerzlicher als alles, was mir jemals widerfahren ist.
Das einzige Gute ist, dass nach dem Tode von Thomas und Francis niemand mehr da ist, der gegen mich aussagen kann. Sie können nun nichts mehr gegen mich vorbringen. Das muss doch bedeuten, dass ich nun freigelassen werden kann. Vielleicht komme ich im neuen Jahr frei und muss ins Exil gehen und an einem furchtbar öden Ort leben. Oder vielleicht vergibt mir der König, weil Thomas tot ist, und ernennt mich wie Königin Anna zu seiner Schwester, dann könnte ich wenigstens im Sommer und zu Weihnachten den Hof besuchen. Vielleicht werde ich ja nächstes Weihnachten wieder glücklich sein. Vielleicht bekomme ich nächstes Jahr ein paar schöne Geschenke. Dann werde ich auf dieses traurige Weihnachten zurückblicken und darüber lachen, dass ich geglaubt hatte, mein Leben wäre vorüber.
Die Tage sind schrecklich lang, auch wenn es erst so spät hell und so früh wieder dunkel wird. Ich bin froh, dass ich an meinem Leiden reife, sonst wäre es doch eine ziemliche Zeitverschwendung. Ich vergeude meine Jugend an diesem öden Ort. An meinem nächsten Geburtstag werde ich sechzehn, dann bin ich praktisch eine alte Frau. Es ist entsetzlich, dass ich Woche um Woche in diesem Haus auf meine Freilassung warten muss, während meine Jugend dahinschwindet. Ich habe an der Wand am Fenster eine kleine Strichliste gemacht, und wenn ich sie mir manchmal ansehe, dann kommt sie mir endlos vor. An manchen Tagen vergesse ich absichtlich, einen Tag abzustreichen, dann scheint die Zeit nicht so lang. Aber dann stimmt wieder die Zählung nicht, und das ist auch ärgerlich. Es ist so dumm, wenn man nicht zählen kann. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich genau wissen will, wie lange ich hier sitzen muss. Was ist, wenn er mich jahrelang gefangen hält? Nein, das glaube ich nicht. Ich nehme an, der König wird die Weihnachtszeit in Whitehall verbringen und nach dem Dreikönigstag wird er befehlen, mich aus der Haft zu entlassen. Aber ich weiß nicht einmal, wann das sein wird, weil ich meine eigene Zählung durcheinandergebracht habe. Manchmal glaube ich, Großmutter hatte recht und ich bin eine Idiotin, und das ist sehr entmutigend.
Ich habe Angst, dass der König immer noch böse auf mich ist - obwohl ich sicher bin, dass er mir nicht für alles die Schuld gibt, so wie Erzbischof Cranmer das tut. Wenn ich ihn doch nur sehen dürfte! Dann würde er mir gewiss vergeben. Er ist wie der alte Haushofmeister meiner Großmutter, der uns Strafen androhte, weil wir im Heu gespielt oder Äste an den Apfelbäumen abgebrochen hatten, und dann schlug er welche von den Jungen, aber wenn die Reihe an mir war und ich ihn mit Tränen in den Augen ansah, dann tätschelte er mir bloß die Wangen und sagte, ich solle nicht weinen, die anderen seien schuld. Ich glaube, auch der König wird mich so behandeln, wenn ich ihn endlich sehen darf. Er, der alles weiß, kann doch sicherlich einem dummen Ding, das schon immer leicht auf Abwege geriet, verzeihen? Und sicher kann er in seiner Weisheit verstehen, dass ich mich in Thomas verliebte und gegen meine Liebe nicht ankonnte? Jemand, der so alt ist wie der König, muss doch verstehen, dass ein Mädchen sich verlieben und darüber vergessen kann, was Recht und was Unrecht ist? Denn wenn ein Mädchen sich verliebt, kann es an nichts anderes denken als das nächste Stelldichein mit dem geliebten jungen Mann. Und da sie mir den armen Thomas auf immer entrissen haben, bin ich doch gestraft genug?
J ANE B OLEYN , T OWER , J ANUAR 1542
Und so warten wir.
Der König hat anscheinend im Sinn, diese lose Dirne von Königin zu begnadigen, da er so lange zögert. Und wenn er ihr vergibt, dann wird auch mir vergeben, und ich bin wieder einmal dem Henkersbeil entronnen.
Haha! Was für ein Witz mein Leben doch war: Hier sitze ich nun im Tower, wo auch mein Ehemann gefangen gehalten wurde und seinen Tod erwartete! Ich hätte den Hof und das höfische Leben hinter mir lassen können, ich hätte sicher und
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