Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
entspricht allerdings nicht der Wahrheit, denn es hat die ganze Nacht geregnet, und nun hagelt es noch dazu. Aber alle möchten unbedingt glauben, dass ich so rasch wie möglich den König sehen will. Also packen meine Damen mich warm ein, und wir verlassen bei stürmischem Wetter den Hof der Burg und ziehen über eine uralte Landstraße, die bei ihnen Watling Street heißt, in Richtung Canterbury.
Der Erzbischof höchstpersönlich, Thomas Cranmer, ein sanfter Mann mit freundlichem Lächeln, erwartet mich schon vor der Stadt und reitet die letzte halbe Meile neben meiner Sänfte. Ich starre in den strömenden Regen: Dies war einst die berühmte Pilgerstraße für die Gläubigen, die den Schrein des heiligen Thomas Beckett in der Kathedrale von Canterbury besuchen wollten. Von Weitem erblicke ich den hoch aufragenden Kirchturm. Durch eine Lücke in der dunklen Wolkendecke fällt ein Lichtstrahl auf ihn, als wollte Gott diese heilige Stätte berühren. Die Straße ist gepflastert. Jedes zweite Haus wurde einst als Pilgerherberge erbaut, denn sie kamen aus ganz Europa her, um an dem heiligen Schrein zu beten. Canterbury war einst, vor wenigen Jahren noch, eine der heiligsten Stätten der Welt.
Nun ist alles verändert. So verändert, als hätten sie die Kathedrale selbst abgerissen. Meine Mutter hat mich noch ermahnt, ja nicht die Veränderungen zu erwähnen, die dieser König vorgenommen hat - und seien sie auch noch so erschreckend. Es geschah im Auftrag des Königs, dass der Schrein des großen Heiligen zerstört wurde. Seine Bevollmächtigten stiegen in die Gruft hinab und schändeten den Sarg mit den heiligen Gebeinen. Es heißt, dass sie seinen geschundenen Leichnam herauszerrten und auf den Misthaufen vor der Stadtmauer warfen, so stark war ihre Entschlossenheit, diese heilige Stätte zu zerstören.
Mein Bruder würde dem entgegenhalten, dass es eine gute Tat war, weil die Engländer sich damit von Aberglauben und päpstlich verordneter Heiligenverehrung befreiten - aber im Gegensatz zu mir sieht er nicht, dass die ehemaligen Pilgerherbergen zu Stätten der Unzucht geworden sind und dass an allen Straßen, die nach Canterbury hineinführen, obdachlose Bettler hocken. Mein Bruder weiß nicht, dass halb Canterbury aus Spitälern für die Armen und Kranken bestand, dass die Kirche die Pflege mittelloser Pilger bezahlte, dass Nonnen und Mönche ihr Leben dem Dienst an den Armen geweiht hatten. Nun müssen sich unsere Soldaten einen Weg durch eine unruhige Menge bahnen, die an der heiligen Stätte Zuflucht suchte; doch diese ist nicht mehr da. Ich schweige wohlweislich, als unsere Kavalkade durch das große Stadttor einreitet und der Erzbischof vom Pferd absitzt, um mich in seinem schönen Haus zu empfangen, das früher einmal, vielleicht vor wenigen Monaten noch, ein Kloster gewesen sein muss. Ich schaue mich in der prachtvollen Halle um, in der Reisende einst kostenfrei logieren durften und in der vordem die Mönche gespeist haben mögen. Ich weiß, mein Bruder möchte, dass ich England noch weiter von Aberglauben und Papsttum entferne, aber er weiß ja nicht, was diesem Land im Namen der Reformation angetan worden ist.
Die Fenster, die einst in Buntglas Geschichten aus der Heiligen Schrift zeigten, haben sie so brutal zerschlagen, dass selbst das filigrane steinerne Maßwerk zerborsten ist. Hoch oben im Gewölbe waren kleine Engel und, wie ich vermute, ein Heiligenfries, der von einem gedankenlosen Narren mit einem Hammer bearbeitet wurde. Es ist töricht, um Dinge aus Stein zu trauern, das weiß ich wohl ..., aber die Männer, die wähnten, hier ein Werk Gottes zu vollbringen, taten es auf höchst unchristliche Weise. Sie hätten doch einfach die Statuen abschlagen und die Wände glätten können. Doch stattdessen haben sie den Engeln die Köpfe abgeschlagen und ein Bild der Zerstörung hinterlassen. Wie das dem Willen Gottes dienen soll, ist mir nicht klar.
Ich bin eine Tochter des Herzogtums Kleve, und wir haben recht daran getan, uns das Papsttum vom Halse zu schaffen - doch ohne die Barbarei, die ich hier vorfinde. Ich kann mir keinen Grund denken, warum Menschen glauben, dass eine neue Welt, in der etwas Schönes zerstört und etwas Zerstörtes an seine Stelle gesetzt wird, besser wäre als die alte.
Nun bringen sie mich in meine Gemächer, in denen früher vermutlich der Klostervorsteher wohnte. Sie sind frisch verputzt und gestrichen worden und riechen noch nach Kalktünche. Und hier, in diesen
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