Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
serviert bekomme. Hunderte Menschen dinieren in dieser Halle, und vor den Fenstern und in den Gängen stehen noch einmal Hunderte, die mir zuschauen, als wäre ich ein fremdes, interessantes Tier.
Daran werde ich mich wohl oder übel gewöhnen müssen. Es hat keinen Sinn, Königin von England zu sein und sich vor Dienstboten zu genieren. Dieses gestohlene Kloster ist nicht einmal eines der großen Schlösser im Lande, und dennoch habe ich nie zuvor so reiche Vergoldungen und Wandmalereien und Gobelins gesehen. Ich frage den Erzbischof, ob dies sein eigener Palast sei, und er lächelt und antwortet, dass sein eigenes Haus in der Nähe liegt. Dieses Land ist so reich, dass es kaum zu fassen ist.
Ich komme erst in den frühen Morgenstunden ins Bett, und bald schon müssen wir uns wieder erheben, um weiterzureisen. Doch wie früh wir auch aufbrechen, jeden Tag brauchen wir länger, weil unser Anhang sich ständig vergrößert. Der Erzbischof und sein Gefolge, wahre Hundertschaften, reisen nun auch mit mir, und es gesellen sich noch mehr Lords dazu, die mich nach Rochester begleiten werden. Am Straßenrand drängen sich die Menschen und grüßen mich, und ich lächele und winke ihnen zu.
Ich wünschte, ich könnte mir alle Namen merken, aber bei jedem Halt kommen wieder andere, prächtig gekleidete Herren auf mich zu und verneigen sich, und Lady Lisle oder Lady Southampton oder eine der anderen Damen flüstern mir ihre Namen zu, und ich lächele und reiche meine Hand und versuche, mir wieder einige neue Namen zu merken. Sie sehen ohnehin alle gleich aus: Sie gehen in Samt gekleidet, tragen Goldketten und Perlen oder Edelsteine am Hut. Und es sind Dutzende, Hunderte ... halb England ist gekommen, um mir seine Aufwartung zu machen, und ich kann keinen dieser Männer vom anderen unterscheiden.
Wir speisen mit großem Zeremoniell in einer Großen Halle, und man stellt mir Lady Browne vor, die für meine Ehrenjungfern verantwortlich ist. Sie stellt mir die jungen Damen vor, und ich lächele über diese endlose Reihe von Katherines und Marys und Elizabeths und Annes und Bessies und Madges. Alle sind kess und hübsch und tragen Häubchen, die viel Haar zeigen - mein Bruder würde es schamlos nennen. Sie tragen hübsche, zierliche Schühchen und starren mich an, als wäre ich ein wilder Falke, der im Hühnerhof gelandet ist. Besonders Lady Browne bringt mich mit ihrem Blick aus der Fassung, und ich winke Lotte heran und bitte sie, Lady Browne auf Englisch zu sagen, dass ich hoffe, sie werde mir Ratschläge bezüglich meiner Kleidung und der englischen Mode geben, wenn wir nach London kommen. Als Lotte dies übersetzt, läuft die Dame rot an und wendet sich ab und starrt mich nicht mehr an. Ich fürchte, dass sie mein Kleid in der Tat sehr seltsam findet und dass ich in ihren Augen hässlich bin.
J ANE B OLEYN , R OCHESTER , D EZEMBER 1539
»Ihr Ratschläge für ihre Kleidung geben!«, zischt Lady Browne, als sei es meine Schuld, dass die neue Königin Englands so ausländisch aussieht. »Kann Jane Boleyn mir das vielleicht erklären? Hätte sie nicht schon in Calais andere Kleider anlegen können?«
»Wer hätte ihr Rat erteilen sollen?«, halte ich vernünftig dagegen. »Immerhin kleiden sich alle ihre Damen so.«
»Lord Lisle hätte ihr einen Wink geben können. Er hätte sie warnen sollen, dass sie in England nicht herumlaufen darf wie ein Mönch in seiner groben Kutte. Wie soll ich die Mädchen im Zaum halten, wenn sie sich über sie halb totlachen? Fast hätte ich Katherine Howard schlagen müssen. Gerade mal einen Tag steht dieses Kind in königlichen Diensten, und schon ahmt sie den Gang der Königin nach, und schlimmer noch - sie trifft ihn genau!«
»Die Ehrenjungfrauen sind immer frech und vorlaut. Ihr werdet sie noch zur Räson bringen.«
»Sie wird vor ihrer Ankunft in London keine Zeit haben, eine Schneiderin aufzusuchen. Sie wird ihre Reise so fortsetzen müssen, auch wenn sie aussieht wie ein Paket.« Sie überlegt einen Moment. »Was tut sie gerade?«
»Sie ruht sich aus«, sage ich verhalten. »Ich dachte, sie braucht mal einen Augenblick der Besinnung.«
»Sie soll Königin von England werden!«, faucht ihre Ladyschaft. »Das wird kein friedliches Leben!«
Ich sage nichts darauf.
»Müssten wir den König nicht vorwarnen? Soll ich mit meinem Gemahl sprechen?«, fragt Lady Browne in gedämpftem Ton. »Sollten wir Lordkanzler Cromwell nicht mitteilen, dass wir ... Bedenken haben? Werdet Ihr
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