Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
Zimmern, wird mir allmählich der wahre Grund für die hiesige Glaubensreform klar. Dieses reiche Kloster und seine Ländereien, die großen Gutshöfe, die ihm Pacht bezahlen, und die Schafherden, die ihm Wolle liefern, gehörten einst der Kirche und dem Papst. Die Kirche war der größte Grundbesitzer Englands. Nun gehört all dieser Reichtum dem König. Zum ersten Mal wird mir klar, dass es bei der Reform in diesem Lande nicht allein um die Anbetung Gottes geht. Vielleicht hat sie ja gar nichts mit Gott zu tun, sondern allein mit Gier.
Auch Eitelkeit ist vielleicht im Spiel. Denn Thomas Beckett war ein Heiliger, der einem tyrannischen König von England trotzte. Sein Leichnam lag, gebettet in Gold und Edelsteine, in der Krypta dieser üppig ausgestatteten Kathedrale, und der König höchstpersönlich pflegte - bevor er die Vernichtung des Schreins befahl - an Becketts Grab zu kommen, um im Gebet Rat zu suchen. Aber nun benötigt der König keinen Rat mehr, Aufrührer werden nicht mehr geehrt, und sämtlicher Reichtum muss der Krone zufallen. Mein Bruder würde sagen, das sei auch gut so, ein Land könne nicht zwei Herren haben.
Müde ziehe ich mich zum Dinner um. Da höre ich Kanonenschüsse, und obwohl es stockdunkel ist und fast Mitternacht, kommt Jane Boleyn lächelnd herein und sagt, dass in der Großen Halle Hunderte von Menschen warten, um mich in Canterbury willkommen zu heißen.
»Viele Gentlemen?«, frage ich in meinem gestelzten Englisch.
Sie lächelt sogleich - sie weiß, dass ich eine weitere endlose Reihe von Vorstellungen befürchte.
»Sie wollen Euch nur sehen«, sagt sie langsam und deutet auf ihre Augen. »Ihr müsst winken.« Sie zeigt mir, wie ich winken soll, und ich kichere über das Possenspiel, das wir aufführen müssen, bis ich ihre Sprache einigermaßen beherrsche.
Ich zeige zum Fenster hinaus. »Gutes Land«, sage ich.
Sie nickt. »Klosterländereien. Gottes Land.«
»Jetzt Königs?«
Sie lächelt ironisch. »Der König ist jetzt das Oberhaupt der Kirche, versteht Ihr? Aller Reichtum ...« Sie zögert kurz. »... der gesamte geistige Reichtum der Kirche gehört nun ihm.«
»Und das Volk, es ist froh?«, frage ich. Es macht mich so verrückt, dass ich nicht flüssig sprechen kann. »Die schlechten Priester, sie sind fort?«
Sie wirft einen Blick zur Tür, als wollte sie sichergehen, dass wir nicht belauscht werden können. »Das Volk ist nicht froh«, erwidert sie. »Das Volk liebte die Schreine und die Heiligen. Es versteht nicht, warum die Kerzen entfernt werden mussten. Es versteht nicht, warum es nicht mehr um Gnade beten darf. Aber Ihr solltet darüber nur mit mir sprechen. Es ist des Königs Wille, dass die Kirche zerstört werden soll.«
Ich nicke. »Er Protestant?«, frage ich.
Ihre Augen blitzen. »Oh nein! Er ist, was immer er zu sein beliebt. Er schwor dem Glauben ab, um meine Schwägerin zu heiraten. Sie glaubte an eine reformierte Kirche, und so glaubte der König mit ihr. Dann brachte er sie um. Nun hat er die Kirche fast wieder katholisch gemacht, die Messe wird fast wieder wie früher gehalten - aber den Reichtum der Kirche wird er niemals zurückgeben. Wer weiß, was er als Nächstes tun wird? Woran er als Nächstes glauben wird?«
Ich verstehe nur wenig von dem, was sie sagt, deshalb wende ich mich dem Fenster zu und starre in den strömenden Regen und die stockfinstere Nacht. Die Vorstellung eines Königs, der nicht nur bestimmen kann, wie sein Volk leben soll, sondern ihm sogar seinen Glauben verordnet, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Dieser König hat den Schrein eines der größten Heiligen der Christenheit zerstören lassen. Dieser König hat die größten Klöster seines Reiches in Privatpensionen umgewandelt. Mein Bruder irrte sich gewaltig, wenn er glaubte, ich könnte diesen König zum rechten Glauben bekehren. Dieser König wird seinen Willen durchsetzen, und ich wage zu behaupten, dass niemand ihn aufhalten oder ändern kann.
»Wir sollten zum Dinner gehen«, sagt Jane Boleyn sanft. »Sprecht mit niemandem sonst über diese Dinge.«
»Ja«, sage ich nur. Dann öffne ich die Tür meiner Privatgemächer und trete in die Menge, die im Audienzzimmer meiner harrt. Wieder einmal stehe ich einem Meer lächelnder Gesichter gegenüber.
Ich bin aber so froh, nicht mehr auf der Straße und im Regen zu sein, dass ich ein großes Glas Wein trinke und herzhaft zugreife, obwohl ich allein unter einem Baldachin sitze und meine Speisen auf Knien
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