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Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Titel: Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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nicht genau, worum es in ihrem Gespräch geht, denke aber, dass nicht nur Lady Browne der Meinung ist, Lady Anna sei für die mächtige Stellung der Königin von England nicht geeignet. Sie kreiden ihr ihre Schüchternheit und ihre mangelnden Sprachkenntnisse an. Sie verachten sie wegen ihrer Kleidung und weil sie nicht tanzen oder singen oder die Laute schlagen kann. Unser Hof ist grausam und frivol, und sie ist ein Mädchen, das sich zur Zielscheibe des Spottes bestens eignet. Was wird geschehen, wenn wir unseren Spott weitertreiben? Anna und der König sind so gut wie verheiratet. Nichts kann die Hochzeit noch aufhalten. Er kann sie doch jetzt nicht mehr nach Hause schicken? Das vermag nicht einmal dieser König. Er würde damit Cromwells Bündnisvertrag zunichtemachen, es würde Cromwells politisches Ende bedeuten, und England stünde Frankreich und Spanien ohne einen protestantischen Verbündeten gegenüber, der ihm den Rücken stärkte. Das wird der König niemals wagen, da bin ich sicher. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, was noch passieren wird.
    Unten im Hof wird der Stier losgelassen. Sein Führer hakt das Seil los, das durch den Nasenring des Tieres gezogen ist, springt rasch beiseite und schwingt sich über die Bande. Die Männer, die ringsum auf Holzbänken sitzen, springen nun auf und beginnen ihre Wetten herauszubrüllen. Der Stier ist ein mächtiges Tier mit starken Schultern und einem hässlichen Kopf. Er wendet sich hierhin und dorthin, späht mit seinen kleinen tückischen Augen argwöhnisch nach den Hunden. Diese wirken nicht allzu begierig, sich in den Kampf zu stürzen; sie haben Angst vor der Kraft des Stieres.
    Ich bin ein wenig atemlos. Ich habe schon lange keine Stierhetze mehr gesehen. Ich hatte vergessen, was für eine grausame Unterhaltung es ist: die kläffenden Hunde und das riesige Tier, das sie niederzwingen werden. Selten habe ich einen so großen Bullen gesehen: Sein Maul ist bereits von früheren Kämpfen vernarbt, seine Hörner sind drohend und spitz. Die Hunde springen vor und zurück, sie bellen unablässig, und man hört förmlich ihre Furcht. Der Stier wendet sich von einer Seite zur anderen, droht ihnen mit gesenkten Hörnern, und die Hunde bilden einen großen Kreis um das Tier.
    Einer geht zum Angriff über, und der Bulle wirbelt herum. Man sollte nicht glauben, dass ein so großes Tier sich so flink bewegen kann! Tief senkt sich der massige Kopf, und ein Schrei ertönt, gellend wie der eines Menschen. Einer der Hunde ist von dem Stier auf die Hörner genommen worden. Nun liegt er am Boden, sicher sind seine Rippen gebrochen. Er kann nicht fortkriechen, winselt wie ein Baby, und der Stier steht über ihm, bohrt sein großes Horn in sein schreiendes Opfer.
    Auch mir entfährt ein Aufschrei, doch ob um des Hundes oder des Stieres willen könnte ich nicht sagen. Das Pflaster im Hof ist voller Blut. Der Angriff hat den Stier unaufmerksam werden lassen, und nun springt ein zweiter Hund vor und schnappt nach seinem Ohr. Der Stier dreht sich, doch schon verbeißt sich ein anderer Hund in seine Kehle, weiß glitzern die Zähne im Mondlicht. Der Bulle brüllt zum ersten Mal, und der Tumult versetzt uns alle in Aufregung. Wir drängen uns an den Fenstern, um zu sehen, wie der Stier mit dem Kopf schlägt und die Hunde zurückschleudert und einer von ihnen vor Wut heult.
    Ich zittere plötzlich, rufe den Hunden zu, dass sie zupacken sollen. Ich will mehr sehen, ich will es bis zum Ende mit ansehen, und Lady Anna neben mir lacht. Auch sie ist erregt. Sie zeigt auf das blutende Ohr des Bullen, und ich nicke und sage: »Er wird noch so wütend werden! Er wird sie umbringen, das ist sicher!« Und dann plötzlich drückt sich ein dicker Mann, den ich nicht kenne, ein Fremder, der nach Schweiß und Wein und Pferden riecht, neben uns in die Fensternische, schiebt mich roh beiseite und sagt zu Lady Anna: »Ich bringe Euch Grüße vom König von England«, und küsst sie auf den Mund.
    Sofort fahre ich herum und will nach den Wachen rufen. Er ist ein Mann von fast fünfzig Jahren, ein dicker Mann, alt genug, um ihr Vater zu sein. Sie glaubt sogleich, dass er irgendein betrunkener Tölpel sei, dem es irgendwie gelungen ist, in ihre Gemächer einzudringen. Sie hat in den letzten Tagen Hunderte, Tausende von Männern mit einem Lächeln und einem Händeschütteln begrüßt, und nun kommt dieser Mann in seinem fleckigen Umhang und seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe und presst ohne Weiteres

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