Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
Höflinge, Lügner - sind so entsetzt, dass wir sprachlos sind. Das Kartenhaus, das wir dreißig Jahre lang aufgebaut haben, das Fantasiebild unseres alterslosen und ewig begehrenswerten Herrschers, ist umgestoßen worden - und das von einer Frau, die keiner von uns respektiert.
Er wendet sich wortlos ab, stolpert fast beim Hinausgehen über sein schmerzendes, wundes Bein. In diesem Augenblick ist es die schlaue kleine Katherine Howard, die bewundernd nach Luft schnappt und das Schweigen bricht. »Ooh! Vergebt mir, Sir! Aber ich bin neu am Hofe, ein Fremdling wie Ihr. Darf ich fragen - wer seid Ihr? Wie lautet Euer Name?«
K ATHERINE , R OCHESTER , N EUJAHR 1539
Ich bin die Einzige, die ihn hereinkommen sieht. Ich mag keine Bullen- oder Bärenhetze oder Hahnenkämpfe und all diese widerlichen Sachen - und deshalb stehe ich ein Stück vom Fenster entfernt und achte nicht auf die Dinge, die im Hof vor sich gehen. Eigentlich schaue ich einen jungen Mann an, der mir schon vorher aufgefallen ist, einen ausnehmend hübschen jungen Mann mit einem frechen Lächeln. Und deshalb sehe ich auch die sechs Männer hereinkommen, alte Männer, alle mindestens dreißig, und der dicke alte König ist an der Spitze, und alle tragen die gleiche Verkleidung, wie bei einem Maskenball. Deshalb errate ich sofort, wer es ist: Er ist wieder einmal verkleidet gekommen, wie ein Ritter von der traurigen Gestalt, dieser alte Narr. Er wird sie grüßen, und sie wird so tun, als würde sie ihn nicht kennen, und dann werden wir einen Ball haben. Wirklich, ich bin sehr froh, ihn zu sehen, denn so ist es gewiss, dass wir tanzen werden, und ich überlege bereits, wie ich den hübschen jungen Mann ermutigen kann, mich zum Tanz aufzufordern.
Doch als er sie küsst, geht alles furchtbar schief. Mir wird sofort klar, dass sie keine Ahnung hat, wer er ist - jemand hätte sie vorwarnen sollen. Sie hält ihn für einen alten Trunkenbold, der sich Zutritt verschafft hat, weil er gewettet hat, dass er sie küssen würde. Und natürlich ist sie entsetzt und angewidert, denn wenn er einen schäbigen Umhang trägt und nicht von seinem prächtigen Hofstaat umgeben ist, sieht er überhaupt nicht aus wie ein König. Im Gegenteil, wenn er einen schäbigen Umhang trägt und wenn seine Begleiter ebenso schäbig gekleidet sind, dann sieht er aus wie ein gemeiner Krämer, mit watschelndem Gang und roter Nase, wie ein Krämer, der den Wein liebt und hofft, bei Hofe die Edelleute zu sehen. Er sieht aus wie die Sorte Mann, der mein Onkel auf der Straße keinen Blick gönnen würde. Ein dicker alter Mann, ein gewöhnlicher alter Mann, ein betrunkener Schafbauer am Markttag. Sein Gesicht ist aufgedunsen, furchtbar fett wie ein großer runder Mond, sein Haar ist ergraut und dünn, er hat einen ungeheuren Leibesumfang und eine alte Verletzung am Bein, sodass er hinkt und schwankt wie ein Seemann. Ohne seine Krone ist er absolut hässlich, er sieht aus wie ein gewöhnlicher alter Großvater.
Taumelnd weicht er zurück. Sie aber steht voller Würde da und reibt sich den Mund, um den Gestank seines Atems loszuwerden, und dann - dies ist so entsetzlich, dass ich fast aufschreien möchte! - wendet sie den Kopf ab und spuckt den Geschmack seiner Lippen aus. »Lasst mich«, sagt sie und kehrt ihm den Rücken zu.
Es ist still, totenstill, niemand sagt etwas, und plötzlich weiß ich, was ich tun muss - so sicher, als stünde Großmutter an meiner Seite und sagte mir vor. Ich denke nicht an den Tanz oder an den jungen Mann, in diesem Augenblick denke ich einmal nicht an mich selbst, und das passiert mir fast nie. Ich habe nur den blitzartigen Gedanken, dass er, wenn ich vorgebe, ihn nicht zu kennen, sich nicht demaskieren muss, und so wird die Verkleidung dieses traurigen alten Narren nicht vor unseren Augen zerstört. Ehrlich gesagt tut er mir leid. Ich glaube, dass ich ihm die furchtbare Schmach erleichtern kann: dass er auf eine Frau losstürmte und von ihr zurückgestoßen wurde wie ein stinkender alter Hund. Hätte jemand anders ein Wort gesagt, so hätte ich geschwiegen. Aber da niemand etwas sagt und die Stille endlos andauert, bald unerträglich wird, und da er im Zurücktaumeln fast auf mich gefallen und sein Gesicht so verzerrt und verwirrt ist und er mir so leidtut, der gedemütigte alte Narr - da sage ich, gurre ich: »Oh! Vergebt mir, Sir! Aber ich bin neu am Hofe, ein Fremdling wie Ihr!«
J ANE B OLEYN , R OCHESTER , N EUJAHR 1539
Brüllend wie ein
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