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Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance

Titel: Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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seine schmierigen Lippen auf ihren Mund.
    Dann verbeiße ich mir den Ruf nach den Wachen, denn ich sehe an seiner Größe und seinem Umfang und an seinen Begleitern, die ebensolche Umhänge tragen, dass es der König ist. Und im selben Augenblick geschieht eine wundersame Verwandlung: Er kommt mir nicht mehr alt und dick und widerwärtig vor. Sobald ich weiß, dass es sich um den König handelt, sehe ich den Fürsten, den man dereinst den schönsten Prinzen der Christenheit nannte, den Mann, in den ich einst selbst verliebt war. Dies ist Heinrich, der König von England, einer der mächtigsten Männer der Welt, ein Tänzer, ein Musiker, ein Sportsmann, galanter Ritter und Liebhaber. Dies ist das Idol des englischen Hofes, so mächtig wie der Stier, der im Hof unter uns wütet, so gefährlich wie der verwundete Stier, der sich auch gegen jegliche Herausforderer wendet und sie tötet.
    Ich mache keinen Hofknicks, weil er verkleidet ist. Katharina von Aragon höchstpersönlich sagte mir, dass man seine Masken nicht lüften dürfe. Er liebt es, sich zu demaskieren und den erstaunten Höflingen Ausrufe der Überraschung zu entlocken: dass sie nicht im Entferntesten geahnt hätten, wer dieser schöne Fremde sei, den sie um seiner selbst willen bewunderten, ohne zu ahnen, dass er unser wunderbarer junger König ist.
    Da ich aber Lady Anna nicht warnen kann, wird die Szene ähnlich gefährlich wie jene unten im Hof; auch sie könnte blutig enden. Sie stößt den König von sich, sie stemmt zwei starke Hände gegen seine breite Brust, und ihr Gesicht, das zuweilen so einfältig und phlegmatisch wirkt, flammt rot auf. Sie ist eine sittsame Frau, ein unberührtes Mädchen, und sie ist entsetzt, dass dieser Mann ihr so nahe gekommen ist und sie beleidigt hat. Mit dem Handrücken reibt sie ihre Lippen, um seinen Geruch loszuwerden. Und dann, oh Graus!, wendet sie auch noch den Kopf ab und spuckt seinen Speichel aus.
    Sie sagt etwas auf Deutsch, das keiner Übersetzung bedarf. Zu deutlich ist ihr Abscheu vor diesem Schuft, der sich erdreistet hat, sie anzufassen, ihr seinen weinseligen Mundgeruch aufzuzwingen.
    Er stolpert zurück, er, der große König, fast schon niedergeworfen von ihrer Verachtung. Nie im Leben hat ihn eine Frau zurückgestoßen, nie in seinem Leben hat er auf dem Gesicht einer Frau etwas anderes wahrgenommen als Verlangen und Willfährigkeit. Er ist entsetzt. In ihrem geröteten Gesicht und ihrem tödlich beleidigten Blick sieht er zum ersten Mal in seinem Leben eine ehrliche Meinung widergespiegelt. In diesem furchtbar blendenden Blitz einer jähen Erkenntnis erkennt er sich als das, was er wirklich ist: ein alter Mann, der schon lange über die besten Jahre hinaus ist, der nicht länger gut aussieht, der nicht mehr begehrenswert ist, ein Mann, den eine junge Frau roh fortstößt, da sie weder seinen Geruch noch seine Berührung ertragen kann.
    Er, Heinrich, taumelt zurück, als hätte er einen tödlichen Schlag ins Gesicht, in sein Herz erhalten. Nie habe ich ihn so betroffen gesehen. Fast erkenne ich die Gedanken, die hinter seiner fetten Stirn rasen. Es überkommt ihn die furchtbare Erkenntnis, dass er alt und krank ist und dass er eines Tages sterben wird. Er ist nicht mehr der schönste Prinz der Christenheit. Er ist ein törichter alter Mann, der dachte, er könnte sich in Umhang und Kapuze hüllen und ein Mädchen von vierundzwanzig Jahren überraschen, und es würde den schönen Fremdling bewundern und sich in den König verlieben.
    Er ist bis auf den Grund seiner Seele getroffen, und nun sieht er äußerst töricht drein. Lady Anna ist beeindruckend in ihrem erhabenen Zorn. Sie wirft ihm einen Blick zu, der ihn geradezu als Aussätzigen brandmarkt. »Lasst mich«, sagt sie in ihrem stark akzentuierten Englisch und wendet ihm die kälteste Schulter zu.
    Sie schaut sich nach einer Wache um, die diesen Eindringling verhaften soll, und bemerkt nun zum ersten Mal, dass niemand auf dem Sprung steht, ihr zu helfen. Wir sind alle erschüttert, niemand weiß, was er sagen oder tun soll, um die Situation zu retten. Lady Anna ist außer sich vor Zorn, der König gedemütigt, vor unser aller Augen. Die Wahrheit über sein Alter, seinen zunehmenden Verfall ist allen plötzlich und schmerzhaft bewusst geworden. Lord Southampton tut einen Schritt nach vorn, bringt jedoch kein Wort heraus, Lady Lisle schaut mich an, und ich sehe mein Entsetzen in ihrer Miene gespiegelt. Wir alle - überaus geschickte Schmeichler,

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