Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
englischen Könige gewesen, und jeder große Lord hat sich auf den ausgedehnten Ländereien ein eigenes Haus gebaut. Jeder kennt eine geheime Passage, jeder kennt den schnellsten Weg, jeder kennt irgendeine Tür, durch die man ungesehen auf die Londoner Straßen gelangen kann, und einen direkten Weg zur Anlegestelle am Fluss. Jeder außer mir und meinen klevischen Gesandten, die wir uns in diesem Kaninchenbau ein halbes Dutzend Mal am Tag verirren und uns jedes Mal dümmer vorkommen.
Jenseits der Palasttore liegt die Stadt London, eine der meistbevölkerten, lautesten, engsten Städte der Welt. Schon in der Morgendämmerung höre ich die Rufe der Straßenhändler, selbst in meinen Gemächern, die tief im Inneren des Kaninchenbaus liegen. Später am Tag nehmen Lärm und Geschäftigkeit zu, bis man das Gefühl bekommt, dass an keinem Ort der Welt noch Frieden herrschen könnte. Ein steter Menschenstrom fließt durch die Tore, um Waren zu verhökern und gute Geschäfte zu machen und auch, wie Lady Jane mir erzählt hat, um dem König Petitionen vorlegen zu lassen. Hier tagt der Kronrat, und auch das Parlament tagt gleich in der Nähe, im Palast von Westminster. Der Tower von London, dieses Machtsymbol jedes englischen Königs, liegt ein Stück flussabwärts. Wenn ich in diesem mächtigen Königreich heimisch werden will, muss ich lernen, mich zunächst in diesem Palast zurechtzufinden und dann in der Stadt London. Es hat keinen Sinn, mich in meinem Kämmerlein zu verkriechen, weil ich von Lärm und Betriebsamkeit überwältigt bin. Ich muss das Schloss verlassen und mich den Menschen zeigen.
Mein Stiefsohn, Prinz Eduard, weilt zu Besuch bei Hofe; er wird morgen auch beim Turnier zuschauen. Er darf nur selten den Hof besuchen, weil man befürchtet, er könne sich eine Krankheit einfangen, und im Sommer darf er überhaupt nicht kommen, da man in dieser Jahreszeit die Pest besonders fürchtet. Der Vater betet den Jungen an: Zum einen, weil er so ein niedliches Kind ist, dessen bin ich sicher; doch auch, weil er der einzige Sohn ist, der einzige Erbe der Tudors. Ein einziger Sohn ist so etwas Kostbares. Alle Hoffnungen des Geschlechts ruhen auf dem kleinen Eduard.
Zum Glück ist er ein kräftiges, gesundes Kind. Er hat das feinste goldene Haar und ein Lächeln, dass man ihn sogleich in die Arme nehmen und drücken möchte. Aber er ist ganz unabhängig und wäre höchst schockiert, wenn ich ihn herzte. Wenn wir die Kinderstube besuchen, halte ich mich deshalb zurück. Ich setze mich zu ihm und lasse mir seine Spielsachen bringen, Stück für Stück. Jedes legt er mir in die Hand, ernst und bedeutsam. »Wau«, sagt er etwa, oder »Miau«. Und nie nehme ich seine plumpe, kleine Hand und drücke einen Kuss in die warme Handfläche, obwohl er mich mit seinen dunklen, runden Augen anschaut und so anziehend lächelt.
Ich wünschte, ich könnte den ganzen Tag in der Kinderstube verbringen. Eduard ist es gleich, dass ich weder Englisch noch Französisch noch Latein sprechen kann. Er gibt mir einen geschnitzten hölzernen Kreisel und sagt feierlich »Puppe«, und ich wiederhole »Puppe«, und dann holt er mir etwas anderes. Keiner von uns benötigt einen großen Wortschatz oder große Klugheit, um ein paar angenehme Stunden miteinander zu verbringen.
Wenn es Zeit für seine Mahlzeit ist, erlaubt er mir, ihn auf seinen Hochstuhl zu heben und neben ihm zu sitzen, während er mit vollkommenem Respekt bedient wird, wie sein Vater. Sie servieren diesem kleinen Kerl die Speisen mit gebeugtem Knie, und er sitzt auf seinem kleinen Thron und wählt aus einem Dutzend feiner Speisen, als wäre er bereits König.
Ich habe bislang noch nichts gesagt, denn ich bin ja erst seit Kurzem seine Stiefmutter, aber wenn ich ein wenig länger hier bin, vielleicht nach meiner Krönung nächsten Monat, werde ich meinen Gebieter, den König, fragen, ob der kleine Junge nicht ein wenig mehr Freiheit haben darf, ob er nicht herumtollen und spielen darf und vielleicht ein bisschen schlichteres Essen bekommt? Vielleicht könnten wir ihn öfter besuchen, da es ihm nicht erlaubt ist, oft an den Hof zu kommen. Vielleicht wird der König mir häufige Besuche erlauben. Ich sehe ihn vor mir, diesen armen kleinen Jungen, ohne eine liebevolle Mutter, und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn man mir seine Erziehung anvertraute und wenn ich ihn zu einem jungen Mann heranwachsen sähe, einem gutmütigen jungen Mann, dem zukünftigen König Eduard von England. Und
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