Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
treten sie vor den königlichen Tisch, wo der König und ich uns ein wenig von jeder Platte nehmen, wie es Brauch ist, und sie dann zu unseren Freunden und Günstlingen schicken. Ich achte sehr darauf, dass ich die Platten nur zum Tisch meiner Hofdamen und der anderen Adelsdamen schicke. Ich halte mich strikt daran und schicke meine Lieblingsspeisen niemals einem Mann. Das ist keine leere Höflichkeit, denn der König beobachtet mich genau. Jedes Wort, das ich beim Mahl äußere, jede meiner Gesten wird von seinen glänzenden, im Fett seiner Wangen verschwindenden Äuglein beobachtet, als wollte er mich bei einem Fehler ertappen.
Zu meinem Erstaunen gibt es Huhn, als Pastete und Frikassee, mit köstlichen Gewürzen gebraten und tranchiert - aber das Tollste ist: Es ist kein Fleisch, denn in der Fastenzeit, so bestimmt es der König, wird das Huhn den Fischen zugerechnet. Wir essen alle Sorten von Wildvögeln (die laut Gott und dem König ebenfalls kein Fleisch sind), kunstvoll auf Platten arrangiert, zart und schmackhaft. Es gibt nahrhafte Eiergerichte und dann tatsächlich Fisch: Teichforellen und Fische aus der Themse und aus der Tiefsee, von Fischern, die weit hinaus aufs Meer fahren, um Nahrung für diesen gierigen Königshof zu beschaffen. Wir bekommen Flusskrebse und Pastete aus schmackhaften jungen Sardinen. Und es gibt Platten voller Frühlingsgemüse, das sonst kaum bei Hofe serviert wird, und ich bin sehr froh, dass ich nun davon essen kann. Ich werde mich jetzt ein wenig zurückhalten, denn alles, was mir besonders gut schmeckt, wird mir später in meinen Gemächern noch einmal serviert. Nie zuvor habe ich so viel und so gut gegessen. Meine Zofe, die ich aus Kleve mitgebracht habe, musste bereits mein Mieder auslassen, und es hat viele verschmitzte Bemerkungen über meine blühende Fülle gegeben, als wolle man andeuten, dass ich guter Hoffnung sei. Ich kann diesen Andeutungen nicht widersprechen, ohne mich und den König bloßzustellen, also muss ich lächeln und die Sticheleien anhören, als wäre ich tatsächlich ein Fleisch mit meinem Gemahl und könnte auf ein Baby hoffen - und keine Jungfrau, die von ihrem Mann nicht angerührt wird.
Die kleine Katherine Howard ist für mich in die Bresche gesprungen und hat gesagt, sie seien alle dumm, nur die gute Butter Englands habe mich dicker gemacht, und wenn sie nicht sähen, wie gut mir das stünde, seien sie einfach blind! Ich war ihr ja so dankbar. Sie ist ein törichtes, frivoles kleines Ding, aber sie besitzt die Gewitztheit aller dummen Menschen. Da sie hauptsächlich an eine Sache denkt, ist sie darin sehr fachkundig geworden. Und was ist diese eine Sache? Jederzeit, jede Minute des Tages denkt Katherine Howard an Katherine Howard. Wenn man es schafft, für einen Moment ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, kann sie aus ihrer Erfahrung heraus kluge Ratschläge geben, aber sie vermag nicht über ihre winzige Sphäre hinauszudenken. Also ist sie ein Dummkopf, aber ein niedlicher und hübscher - und viel klüger als all die Frauen, die glauben, von allem ein bisschen zu verstehen.
Auf andere Vergnügungen wird während der Fastenzeit verzichtet. Es gibt keine höfischen Lustbarkeiten nach dem Dinner, keine Maskenspiele und keinen Mummenschanz, nur Bibellesungen und Psalmensingen. Ich bin besonders froh, dass es keinen Mummenschanz gibt, kann es doch so nicht noch einmal geschehen, dass der König mich in Verkleidung überrascht. Die Erinnerung an unsere erste katastrophale Begegnung ist mir noch deutlich im Gedächtnis, und ich fürchte, auch er wird sie nie vergessen. Nicht die Tatsache, dass ich ihn nicht erkannte, war so anstößig, sondern meine offenkundige Abneigung gegen ihn. Seitdem habe ich nie mehr, weder mit Worten, Taten noch mit Blicken kundgetan, dass er mir widerwärtig ist, so dick und alt, wie er ist, und mit einem Geruch, dass es einem den Magen umdreht. Aber so viel ich auch lächele, mit angehaltenem Atem - nun ist es zu spät, um jenen ersten Missgriff wiedergutzumachen. Im Moment des Kusses offenbarte ihm mein Gesicht, was ich von ihm hielt. Und dann: Wie ich ihn von mir stieß, wie ich den Geschmack seines Mundes ausspuckte! Ich senke immer noch beschämt den Kopf und erröte, wenn ich daran denke. Mein damaliges Verhalten hat einen Eindruck bei ihm hinterlassen, den kein gutes Benehmen mehr beheben kann. In jenem kurzen Augenblick erkannte er durch meine Augen die Wahrheit über sich. Manchmal fürchte ich, dass seine Eitelkeit sich
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