Das Erbe der Königin - Gregory, P: Erbe der Königin - The Boleyn Inheritance
man zum Landungssteg gelangt, wo die königlichen Barken auf der Themse schaukeln. Im Garten lustwandeln Höflinge mit dem König, reich gekleidet, als wollten sie ein Turnier besuchen. Der König, einen Kopf größer als alle Männer in seinem Gefolge und breit wie ein Stier, trägt einen Umhang aus Goldbrokat und eine diamantenbesetzte Samtkappe, die selbst aus der Entfernung glitzert. Er stützt sich schwer auf Thomas Culpeppers Schulter. Auch dieser trägt einen prächtigen dunkelgrünen Umhang, der an seiner Schulter mit einer glitzernden Diamantnadel befestigt ist. Die klevische Einheitstracht aus Barchentstoff und grober Wolle könnte nicht unterschiedlicher sein! Nie werde ich meiner Mutter erklären können, dass ich mich nicht aus Eitelkeit mit der englischen Mode schmücke, sondern es nur tue, damit ich nicht noch jämmerlicher und abstoßender wirke, als ich bereits bin. Sollte der König mich eines Tages verstoßen, dann gewiss nicht deshalb, weil ich mich zu erlesen kleide. Nein, er wird es tun, weil ich ihn anwidere, und das scheine ich stets zu tun, ob ich nun eine viereckige Haube trage wie meine Großmutter oder eine fesche wie die hübsche kleine Kitty Howard. Ich kann nichts tun, was den König erfreut, aber meine Mutter könnte sich ihre Ermahnungen sparen.
Mein Gesandter hat sein Frühstück beendet. Ich kehre wieder an den Tisch zurück und bedeute ihm sitzen zu bleiben, während ich meinen letzten Brief lese, den meines Bruders.
Schwester (so beginnt er),
ich bin sehr beunruhigt vom Bericht der Grafen Oberstein und Olisleger über Deinen Empfang und Dein Benehmen am Hofe Deines neuen Gatten, König Heinrich von England. Deine Mutter wird Dir einige Hinweise bezüglich Kleidung und Anstand schreiben, und ich kann Dich nur bitten, auf sie zu hören und Dich nicht zu einem Benehmen verleiten zu lassen, das uns - und Dir - nur zur Schande gereichen kann. Dein Hang zu Eitelkeit und schlechtem Betragen ist uns allen wohlbekannt, aber wir hatten gehofft, er würde ein Familiengeheimnis bleiben. Wir bitten Dich inständig, Dich zu bessern, da nun die Augen der ganzen Welt auf Dir ruhen.
Ich überspringe die nächsten beiden Seiten, da sie nichts weiter enthalten als eine Aufzählung meiner sämtlichen Fehlhandlungen in der Vergangenheit sowie konstante Ermahnungen, dass ein falscher Schritt die schlimmsten Folgen nach sich ziehen könnte. Wer sollte das besser wissen als ich?
Dann lese ich weiter:
Dieser Brief dient auch als Begleitschreiben für den Botschafter, der unser Land bei König Heinrich und seinem Kronrat vertreten wird. Du wirst ihm jede Hilfe zukommen lassen. Ich erwarte, dass Du eng mit ihm zusammenarbeitest, um das Bündnis mit England zu stärken, das bislang eine arge Enttäuschung ist. Der König scheint der Meinung zu sein, er habe in Kleve einen Vasallen gewonnen und könne uns nun als Verbündete gegen den Kaiser einsetzen, mit dem wir keinerlei Differenzen haben und auch nicht wünschen. Dies solltest Du ihm deutlich machen.
Wie ich hörte, hat ein einflussreicher englischer Adeliger, der Herzog von Norfolk, einen Besuch am französischen Hofe gemacht. Ich zweifle nicht daran, dass England nun eine Annäherung an Frankreich beabsichtigt. Um so eine Allianz zu verhindern, bist Du nach England geschickt worden. Schon jetzt enttäuschst Du Dein Heimatland Kleve, Deine Mutter und mich. Der Botschafter sollte Dir zuraten, wie Du Deiner Pflicht Genüge tun kannst und sie nicht über eitlen Vergnügungen vergisst.
Ich habe ihm Mittel für die Reise gegeben und ihm einen Diener zur Verfügung gestellt; ihm ein Salär zu zahlen, wird jedoch Deine Aufgabe sein. Ich urteile aufgrund Deiner vielen neuen Kleider und Schmuckstücke und gottloser Extravaganzen wie teure Zobelpelze, dass Du es Dir leisten kannst. Selbstredend tätest Du besser daran, Deinen neu gewonnenen Reichtum zum Wohle Deines Landes zu verwenden statt für persönlichen Putz und eitlen Tand. Die bloße Tatsache, dass Du zu einer so hohen Stellung aufgestiegen bist, berechtigt Dich nicht, Dein Gewissen zu vernachlässigen, wie Du es in der Vergangenheit so oft getan hast. Ich bitte Dich inständig: Bessere Dich, Schwester. Als Herrscher unseres Hauses rate ich Dir, Eitelkeit und Liederlichkeit zu entsagen.
Ich hoffe, dieser Brief findet Dich in guter Gesundheit. Auch mir geht es gut, und ich bete, dass auch Deine geistige Verfassung gut sein möge, Schwester. Luxus ist kein Ersatz für ein reines Gewissen,
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